AB - Die Andere Bibliothek 2001


Ursula Naumann: Pribers Paradies
Maurice Joly: Das Handbuch des Aufsteigers
Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne
Hans Magnus Enzensberger: Krieger ohne Waffen
Anatolij Marienhof: Der rasierte Mann und Zyniker
Ulrich Enzensberger: Parasiten
Steffen Radlmaier: Der Nürnberger Lernprozeß
Tor Age Bringsvaerd: Die wilden Götter
Jean-Jacques Schuhl: Ingrid Caven
Martin Mosebach: Der Nebelfürst
Judith Macheiner: Englische Grüße
Hans Christoph Buch: Blut im Schuh


Ursula Naumann: Pribers Paradies

Eichborn 2001, AB 193, 319 S.

Im Jahr des Herrn 1735 verließ Johann Gottlieb Prieber, ein beinah vierzigjähriger, angesehener Advokat aus Zittau, einer kleinen Stadt in der Oberlausitz, Frau, Kinder, Beruf und Heimat und verschwand. Spärliche Zeugnisse, Aktenstücke und Briefe berichten, daß er im wilden Hinterland von Georgia und South Carolina wieder aufgetaucht ist, um dort eine ideale Republik zu gründen.

Priber, wie er sich in Amerika schrieb, gilt als Visionär und Kommunist, als Jesuit und als Ketzer, Spion in den Diensten des französischen Erzfeinds und Anhänger der Vielweiberei, als Aufrührer und Naturmensch. Die Cherokee-Indianer sollen ihn adoptiert haben. In sein Paradies wollte Priber Menschen »aller Farben und Rassen« aufnehmen.

In der späteren Geschichtsschreibung erscheint Priber bald als Bösewicht, bald als Lichtgestalt. Mit Campanella, Thomas Morus und Rousseau hat man ihn verglichen. Soviel steht fest, daß er die einzige säkulare, naturrechtlich begründete Kommune des 18.Jahrhunderts gegründet hat. Sein Projekt ist, wie viele, die ihm folgten, gescheitert. Priber wurde verhaftet, und ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht war, ist er spurlos verschwunden.

Es ist eine abenteuerliche Geschichte voller Lücken und Rätsel, die Ursula Naumann hier mit detektivischem Spürsinn ans Licht bringt. Ihre Rekonstruktion will nicht nur die Wahrheit ermitteln, sondern auch den individuellen und historischen Sinn von Irrtümern und Lügen. Pribers Paradies ist ein Werk der Primärforschung, das auch in einem wissenschaftlichen Verlag hätte erscheinen können,wäre es nicht so glänzend geschrieben und so spannend erzählt. Über den Fall Priber hinaus bietet es ein höchst lebendiges, detailfrohes Fresko von den Schrecken und Wundern des 18. Jahrhunderts im engen Deutschland und im weiten Amerika.

Ursula Naumann, geboren 1945 in Görlitz, wurde mit einer Arbeit über Jean Paul promoviert. Sie hat über Stifter, Charlotte von Kalb und Caroline von Wolzogen geschrieben und Briefe von Annette von Droste-Hülshoff und Schiller ediert. Auf eine akademische Karriere hat sie verzichtet. Sie lebt als freie Autorin im mittelfränkischen Baiersdorf.


Maurice Joly: Das Handbuch des Aufsteigers

Eichborn 2001, AB 194, 382 S.

»Der Erfolg ist in Dir!« - »How to Win Friends and Influence People« - solche Ratgeber haben eine lange Tradition, die bis in die Renaissance, ja bis in die Antike zurückreicht. Daß sie mit der Zeit immer dümmer geworden sind, scheint niemanden zu stören.

Es geht aber auch anders. Maurice Joly, ein Außenseiter der französischen Literatur, berühmt durch seine politische Abrechnung Ein Streit in der Hölle und ansonsten vergessen, hat 1867 im Gefängnis einen Ratgeber zum Erfolg verfaßt, der an Scharfsinn, Ironie und Zynismus nichts zu wünschen übrig läßt.

Er geht davon aus, daß in der menschlichen Gesellschaft ein dauernder, durch das Gesetz geregelter Kriegszustand herrscht, und zieht daraus, im parodistischen Stil eines Leitfadens, die Konsequenzen. Er analysiert die Vorzüge der Borniertheit und des Vorurteils, der Heuchelei und der Patronage, und besonders liebevoll geht er auf die Rolle der politischen Parteien ein. Auch über den Journalismus, die Werbung und die Wirtschaftskriminalität weiß er viel Einleuchtendes zu sagen. Nicht nur die bürgerliche Gesellschaft setzt Joly seinem Röntgenblick aus; auch ihr revolutionäres Pendant wird nicht geschont.

Erstaunlich und deprimierend ist, 133 Jahre nach seinem Erscheinen, die Aktualität dieses Buches, das seinerzeit - selbstverständlich - nur anonym verlegt werden konnte. Die Mechanismen des gnadenlosen Erfolgs sind sich offenbar - digitale Revolution hin oder her - ziemlich gleich geblieben; insofern liegt der Nutzen dieses Handbuchs auf der Hand.

Maurice Joly, 1829 in Lons-le-Saunier geboren, war von Beruf Anwalt. Sein Hauptwerk, »Ein Streit in der Hölle zwischen Macchiavelli upd Montesquieu«, 1991 in der Anderen Bibliothek erschienen, trug ihm zwei Jahre Gefängnis ein. Dort schrieb er auch sein »Handbuch des Aufsteigers«. Sein späteres Leben brachte ihm keinerlei . Erfolg. 1878, kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag, nahm er sich das Leben.


Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne

Eichborn 2001, AB 195, 443 S.

Dieses Buch hat sich viel vorgenommen. Es will die wichtigsten Stadien der Mediengeschichte von den Anfängen bis zum Internet Revue passieren lassen. Also setzt es mit dem Urknall ein. Am Anfang war der Sound, der Big Bang, dessen Nachhall wir heute noch vernehmen. Heute dagegen überlagern sich im Multimedia-Rauschen alte und neue Erfindungen, senden durcheinander und sind auf der Suche nach ihrer eigentlichen Funktion.

Das Paradox eines solchen Projekts liegt darin, daß es seine wichtigsten Themen nicht abbilden kann: dem Buch liegt keine CD-ROM und keine Diskette bei. Es kann kein Update herunterladen. Aber es braucht auch keinen Virus zu fürchten und benötigt keinen Akku - nur die Energie des Lesers. Es bietet statt des sinnlichen Materials Überlegungen zur Sinnproduktion.

Daraus ergibt sich auch die leitende These dieser Mediengeschichte/n: Während die frühe Medienwelt im Bann von Stimme und Schrift sinnzentriert ist, wendet sich die neuere Medientechnik an die Sinne und sprengt das traditionelle Primat der Bedeutungen und alle zentrischen Kommunikationsverhältnisse.

Eine Sendezentrale an alle: Gott übergibt seine zehn Gebote dem Medienmonopol der allumfassenden Kirche. Roma locuta, causa finita. Daß dieses Modell nicht mehr gilt, wissen wir alle. Audiovisuelle Hybridmedien wie der Computer, der am Internet hängt, bringen die beiden Stränge von Sinn und Sinnen zusammen und verstricken uns in ein Netz, das die Subjekte, die User und Loser zu Schnittstellen macht.

Jochen Hörisch, geboren 1951 in Bad Oldesloe, lehrt Literatur- und Medienwissenschaften an der Universität Mannheim. Seine wichtigsten Publikationen sind. »Gott, Geld und Glück«(1983); »Die Wut des Verstehens« (1988); »Brot und Wein« (1992); »Kopf oder Zahl«(1996); »Ende der Vorstellung - Die Poesie der Medien« (1999) und auch in der anderen Bibliothek »Theorie-Apotheke« (2004).


Hans Magnus Enzensberger: Krieger ohne Waffen.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz

Eichborn 2001, AB 196, 348 S.

Als sich im Jahre 1863 ein paar Genfer Honoratioren trafen, konnte niemand ahnen, daß damit eine Institution auf den Plan trat, wie sie die Geschichte der Menschheit nie zuvor gekannt hat. Heute ist das IKRK ein weltumspannender humanitärer Konzern, der über ein Milliardenbudget verfügt. Seine einzigartige Stellung ist durch zahlreiche völkerrechtliche Konventionen verbürgt.

Dieses Buch gibt Auskunft über den Ursprung, die Geschichte, die Erfahrungen und die Krisen des Komitees. Allzuoft wird es mit den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften verwechselt, die allesamt unabhängig agieren und nicht nur in Deutschland immer wieder durch ihre Nähe zur Macht und durch Korruptionsgeschichten in Mißkredit geraten sind.

Auch das Genfer Komitee ist von den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht verschont geblieben. Das ist kein Wunder; denn die Katastrophe ist seine raison d'être. Dies gilt heute nicht weniger als zur Zeit seiner Gründung.

Der Band beginnt und endet mit einem großen Essay von Michael Ignatieff, der die Geschichte des IKRK und seine heutige Problematik glänzend schildert und analysiert. Es folgen Berichte, Erinnerungen und Reportagen aus der Feldarbeit des Komitees in den Kriegen und Krisenregionen von Solferino bis Somalia und Sarajevo. Auch das Versagen des IKRK im Angesicht der Shoa wird nicht ausgespart.

Erzählt wird dies alles aus der Perspektive von Helfern, die sich mit nüchterner Leidenschaft einer Mission verschrieben haben, von der sie wissen, daß sie nie ein gutes Ende nehmen wird. Insgesamt ist damit ein ebenso herzzerreißendes wie intelligentes Panorama der modernen Geschichte entstanden.

Beigetragen haben zu diesem Buch:
Henri Dunant, Michael Ignatieff, Arnold Kühler, Marcel Junod, Jean-Claude Javez, Andreas Döpfner, Gundolf S. Freyermuth, Jörg Bischoff, Georg Brunold und Urs Boegli.


Anatolij Marienhof: "Der rasierte Mann" und "Zyniker"

Eichborn 2001, AB 197, 295 S.

Diese beiden Bücher sind siebzig Jahre alt, aber man merkt es ihnen nicht an. Knappe Sätze, Bilder, in denen Hohes und Niedriges zusammenschießt, rapider Schnitt wie in einem Eisenstein-Film: Das ist eine Ästhetik, die eher der Gegenwart angehört als der russischen Tradition. Seinen unglücklichen Helden erlaubt Marienhof keine Gefühlsausbrüche. Daß ihre Qualen dem Leser trotzdem nicht verborgen bleiben, darin besteht die Kunst dieses Autors.

»Der rasierte Mann« ist der Roman einer unglücklichen Freundschaft zwischen dem kleinen, unansehnlichen Miska und dem eleganten, aber grausamen Leo - die Geschichte einer Hörigkeit, von der Miska sich am Ende gewaltsam befreit: »Ich habe meinen Freund an der Schnur der Portiere erhängt.«

Auch »Zyniker« ist die kaltblütige Schilderung einer Leidenschaft, der Olga und ihr Geliebter Vladimir verfallen sind. Sie endet mit dem Satz: »Und auf der Erde war alles so, als ob nichts geschehen wäre.«

Dabei spielen beide Romane vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution - Umwälzungen, die Marienhof gleichsam aus dem Augenwinkel filmt. Seine Protagonisten aber interessieren sich ausschließlich für ihre Liebe und ihren Haß. Die Revolution läßt sie kalt. Für ihr Glück spielt sie nur dadurch eine Rolle, daß sie es sabotiert. Der Kommunismus stellt sich ihnen als lebensgefährliche Groteske dar. Während um sie eine Welt zerfällt, verteidigen sie rücksichtslos und vergeblich den Egoismus ihrer Gefühle.

Anatolij Borisović Marienhof ist 1897 in Nizhniy Novgorod geboren. Zusammen mit Jesenin gilt er als Begründer des Imaginismus. Seine beiden Romane veröffentlichte er in seinem Berliner Emigrantenverlag, Eine Hetzkampagne in der Sowjetunion führte sofort zum Verbot. Zu seinem Glück wurde Marienhof bald völlig vergessen. Er überlebte so den Stalinismus und starb friedlich 1962 in Leningrad.


Ulrich Enzensberger: Parasiten

Eichborn 2001, AB 198, 303 S.

Der erste Parasit war ein Priester, gewählt in der attischen Demokratie, um die Götter zu ehren. Um 350 v.Chr. purzelte er in die griechische Komödie. Vom armen Mitesser am Tisch der Reichen wurde er zum wortgewandten Makler im Dienst des Bürgers. Lukian entwarf einen Parasiten, der Künstler sein wollte, Philosoph, Dichter, Kriegsheld - alles, bloß kein armer Teufel.

Über tausend Jahre später wurde der Parasit in Europa zum Begriff. Rabelais mochte ihn, Luther nicht. Dann nahm sich die Aufklärung seiner an und erhob ihn zum biologischen Modell. 1720 bestimmte Micheli in Florenz die Sommerwurz als »parasitische Pflanze«. Seine Definition gilt bis heute.

Der Abbé Grégoire bezeichnete dann 1789 auch die Juden als »parasitische Pflanzen«. 1895 unterhielt allein Preußen eine Armee von 27.089 Trichinenbeschauern. 1920 rief Trotzki alle Schaffenden zum Kampf gegen jene Parasiten auf, die »die Spekulation der Arbeit vorziehen«. Ein paar Jahre später entwickelte Hitler in »Mein Kampf« die zentrale These, der Jude sei »ein Parasit im Körper anderer Völker« und griff zur Blausäure. 1964 wurde der Dichter Jossif Brodski als Parasit zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 1980 definierten Orgel und Crick die DNA als »the ultimate parasite«. Seither streiten die Genforscher. Die einen schreiben diesen »Parasiten« eine entscheidende Rolle zu, andere, wie Daniel Voytas, nennen sie »Müll« oder »Amokläufer«.

Ulrich Enzensbergers Buch handelt von der fatalen Rolle einer jahrtausendealten Idee, die immerzu zwischen Natur und Gesellschaft, Biologie und Politik hin- und herpendelt und auf ihrem Zickzackweg oft genug zur Zwangsvorstellung geworden ist. Sein Text ist spannend, komisch und beklemmend. Er erhebt den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, kommt aber ohne Fußnoten aus. Dafür sorgt der Autor für Bilder, Auszüge aus verschollenen Quellen, für ein Literaturverzeichnis und ein Register.

Ulrich Enzensberger, geboren 1944, lebt in Berlin. Von ihm sind in der Anderen Bibliothek erschienen: »Georg Forster. Ein Leben in Scherben« (1996) und »Herwegh. Ein Heldenleben« (1999).


Steffen Radlmaier: Der Nürnberger Lernprozeß.
Von Kriegsverbrechern und Starreportern

Eichborn 2001, AB 199, 372 S.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb das Nürnberger Tribunal ein neues Kapitel in der Geschichte des Völkerrechts. Wenige erinnern sich heute noch daran, wie es dabei zuging. Der Prozeß gegen die Nazi-Größen war ein Medienereignis erster Ordnung. Scharen von Reportern brachen 1945/46 in die zertrümmerte Stadt ein, unter ihnen Willy Brandt, der für die skandinavische Presse schrieb, und der Amerikaner William Shirer. Selbst China hatte einen Berichterstatter entsandt.

Aber vor allem waren Schriftsteller aus der ganzen Welt angereist: Ernest Hemingway und Erika Mann, Ilja Ehrenburg und Louis Aragon, John Steinbeck, Erich Kästner, Konstantin Fedin, Robert Jungk, Martha Gellhorn, Victoria Ocampo, Peter de Mendelssohn, Rebecca West, John Dos Passos ... Eine glänzende Liste, die sich fortsetzen ließe.

Die Berichte dieser Autoren sind seither in Vergessenheit geraten. Steffen Radlmaiers Recherche zeigt, daß sie mehr als alle Prozeßakten über die Atmosphäre und die Wechselfälle des Prozesses sagen. Es sind Impressionen aus erster Hand. Das Weltgericht tagte nicht nur im Schwurgerichtssaal 600, sondern auch, bei Whisky und Wodka, im Bleistiftschloß der Faber-Castell, das als internationales Presse-Camp diente. Die Unmittelbarkeit dieser Zeugnisse versetzt den Leser in eine Zeit, von der sich die Nachgeborenen kaum eine Vorstellung machen können.

Für die Chronologie der Ereignisse sorgen Meldungen aus der Tagespresse. Auf diese Weise vergegenwärtigt das Buch auch den Verlauf des Prozesses und das Ende der Angeklagten.

Steffen Radlmaier, geboren 1954, ist Feuilletonchef der Nürnberger Nachrichten.


Tor Age Bringsvaerd: Die wilden Götter

Eichborn 2001, AB 200, 311 S.

Nehmen wir kein Blatt vor den Mund: Die deutsche Geschichte hat uns manches versaut. Zu ihren Opfern zählt auch eine der erstaunlichsten Götterwelten: die nordische Mythologie. Von Richard Wagner ebenso genial wie schwerfüßig auf die Opernbühne verschleppt, von Chauvinisten und Rassisten vereinnahmt, von den Nazis bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, fristet sie bis heute ein Schattendasein in der rechten Ecke.

Wie tölpelhaft das war und ist, zeigt der Norweger Tor Age Bringsvaerd mit seiner rasanten Nacherzählung, die auf genauer Quellenkenntnis beruht und mit allen herrschenden Klischees aufräumt. Was dabei zum Vorschein kommt, überrascht durch Originalität, Humor und Weisheit.

Die Götter des nordischen Olymps sind schon dadurch einzigartig, daß sie weder unsterblich, noch allwissend, geschweige denn allmächtig sind. Odin erschafft eine Welt, die ihm rätselhaft erscheint. Sein Freund Loki ist ein intelligenter Trickser, der vor keinem Betrug zurückschreckt.

Die Liebesgöttin Freia kann allen helfen, nur sie selber leidet an chronischem Liebeskummer. Immerzu ist die Herrschaft der Asen durch ältere Mächte bedroht. Sie müssen sich ihrer Haut wehren, und sie geben nie auf. Ihre Geschichte kennt zahllose Abenteuer; ein Happy-End ist allerdings nicht vorgesehen.

Eine so große europäische Tradition kampflos den Dumpfhirnen zu überlassen, grenzt an Verblendung. Die zwölf Kapitel des Buches werden ergänzt duch Aufsätze der deutschen Bearbeiter und durch ein ausführliches Register aller handelnden Personen, das auch die isländischen Quellen Bringsværds nachweist.

Tor Åge Bringsværd, 1939 im norwegischen Skien geboren, lebt in Hoelen am Oslofjord. Er hat viele Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Kinderbücherpubliziert.

Johannes Grützke, geboren 1937 in Berlin. Gründer der Künstlergruppen Erlebnisgeiger und Schule der neuen Prächtigkeit, Ausstellungen im In- und Ausland, Bühnenbilder für Peter Zadek sowie zahlreiche Wandgemälde (u.a. Zug der Volksvertreter, Frankfurter Paulskirche).


Jean-Jacques Schuhl: Ingrid Caven

Eichborn 2001, AB 201, 311 S.

Weihnachten 1943 singt ein kleines Müdchen, vier Jahre alt, Heilige Nacht für die Soldaten der Wehrmacht. In der Ferne detonieren Bomben. Es ist Ingrid Cavens erster Auftritt. Ein halbes Jahrhundert später - inzwischen hat sie in Fassbinders Filmen gespielt und als Sängerin die Pariser und New Yorker Bühnen erobert - gibt sie ein Konzert in der Zitadelle von Jerusalem. In ihrer Kindheit an der Saar von Krankheiten gezeichnet und fast erblindet, zeigt sie sich als Frau im Rampenlicht »mit der Kaltblütigkeit eines Toreros, der Konzentration eines buddhistischen Mönchs und der Vitalität einer Animierdame aus dem Rotlichtmilieu.«

Sie ist die Heldin eines Romans, dessen Register vom Märchenton bis zum Comic strip, vom Dokumentarischen bis zur Feerie reicht. Bald lakonisch, bald ausschweifend, führt Jean-Jacques Schuhl ein Maskenspiel vor, dem es an schwarzem Humor nicht fehlt und in dessen Hintergrund ein Schrecken lauert, der nicht vergehen will.

Neben Rainer Werner Fassbinder, mit dem Ingrid Caven verheiratet war und der kurz vor seinem Tod ein rätselhaftes Manuskript über sie verfaßt hat, treten viele andere auf, die ihren Lebensweg kreuzten: Yves Saint Laurent, ein »jüdischer Hugenotte« namens Charles, Produzenten, Selbstmörder, Süchtige, Stars und Verlierer...

Kann eine Frau deutscher sein als Ingrid Caven, die es im Nachkriegsdeutschland nicht ausgehalten hat und ihre Triumphe eher in Frankreich und in Amerika feierte als hier? Mit Schuhls Buch, das in Paris einen riesigen Überraschungserfolg erlebte, kehrt diese Abwesende mit ihrer Stimme, ihrem unverwechselbaren Ton zu uns zurück.

Jean-Jacques Schuhl, der in Paris lebt, legt auf seine Biographie keinen Wert. Auch den Prix Goncourt für sein neuestes Buch trägt er mit Fassung.


Martin Mosebach: Der Nebelfürst

Eichborn 2001, AB 202, 352 S.

Der ahnungslos entschlossene Held dieser Geschichte, ein gewisser Lerner, taumelt um die Jahrhundertwende in ein aberwitziges Unterfangen. Angestiftet und manipuliert von einer üppigen Hochstaplerin, der verwegenen Frau Neuhaus, reist er auf einem schrottreifen Dampfer in die Arktis, um eine herrenlose Insel zu annektieren.

Das liest sich, als wäre dieser Lerner ein entfernter Cousin von Felix Krull, und nicht weniger virtuos und komisch als der alte Meister entwickelt Martin Mosebach den Hintergrund seines Romans, ein wilhelminisches Gesellschaftspanorama. In den Hauptrollen sehen wir den anrüchigen Kaufmann, den schnurrbärtigen Herzog-Regenten, die kleine Afrikanerin und den schäbigen Chefredakteur. Gut erfunden, also gelogen, könnte man meinen.

Aber nein! Unter dem Stichwort »Bäreninsel« schrieb einst Meyers Konversationslexikon: »Im Auftrag eines Hamburger Syndikats nahm 1898 der Deutsche Theodor Lerner 85 qkm in Besitz, und 1899 hatte hier der Deutsche Seefischereiverein eine Station.«

Eine wahre Geschichte also. Was wie ein höchst unwahrscheinliches Capriccio anmutet, ist ein absurdes Kapitel aus der deutschen Kolonialgeschichte. Der Traum von der Ausbeutung einer gottverlassenen Insel im Süden Spitzbergens führte zu diplomatischen Demarchen, und während Lerner auf den Eisschollen umherstolperte, wurden zwischen Berlin und Sankt Petersburg Depeschen gewechselt.

In einem halben Hundert kurzer Kapitel fächert Mosebach die Machenschaften seines Heldenpaares prismatisch auf und führt sie bravourös zu ihrem lachhaften Ende.

Martin Mosebach, geboren 1951, fand an seinem juristischen Beruf keinen Gefallen; er zog es vor, als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main zu leben. Seine wichtigsten Romane sind: »Das Bett« (1983), »Ruppertshain« (1992), »Westend« (1992), »Die Türkin« (1999), »Eine lange Nacht« (2000), »Das Beben« (2005) und »Der Mond und das Mädchen« (2007).


Judith Macheiner: Englisch Grüße, oder Über die Leichtigkeit, mit der man eine fremde Sprache erlernen kann

Eichborn 2001, AB 203, 299 S.

»Natürlich kann ich Englisch. Kann doch jeder!« - Diese Illusion nistet vor allem in Werbeagenturen und Marketingabteilungen, deren Insassen nicht in der Lage sind, einen klaren deutschen Satz hervorzubringen.

Ein bißchen mehr Problembewußtsein könnte nicht schaden. Wenn wir schon alle Englisch sprechen sollen, warum dann nicht gut? Leider tragen die Unterrichtssitten an manchen unserer Schulen wenig dazu bei. Da werden wie eh und je Intelligenz und Sprachgefühl der Lernenden kleingeschrieben. Von den Erleuchtungen der Linguistik wird kaum Gebrauch gemacht, und die segensreichen Tricks der kontrastiven Grammatik werden meist verschmäht.

Es ist leicht, Englisch zu lernen, wenn man sich Judith Macheiner anvertraut. Sie appelliert an Fähigkeiten, über die wir bereits verfügen: die Kenntnis unserer eigenen Sprache, und sie wuchert mit diesem Kapital. Wieviel Witz schleicht sich in unsere englischen Sätze ein, wenn wir ihr folgen, und mit welchen Nuancen macht sie uns bekannt!

Wer nach dieser Lektüre nicht besser als zuvor Englisch versteht, spricht, schreibt und lehrt, dem wird auch kein Oxford und kein Harvard helfen können. Also Schluß mit dem plumpen Airport English und mit dem hilflosen Mediengestammel!

Übrigens hat die Autorin noch einen weiteren Bonus zu bieten: Eher schmerzlos bringt sie uns auf den Stand ihrer Wissenschaft. Was eine Sprache (auch die eigene) im Innersten zusammenhält, auch darüber erfahren wir allerhand aus diesem Buch. Ein Repertorium und ein ausführliches Glossar beschließen dieses unterhaltsame und gescheite Vademecum.

Judith Macheiner lehrt Linguistik und Übersetzungswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. In der Anderen Bibliothek sind von ihr zwei erfolgreiche Bücher erschienen: »Das grammatische Varieté oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden« (1991) und »Übersetzen« (1995).


Hans Christoph Buch: Blut im Schuh. Schlächter und Voyeure an den Fronten des Weltbürgerkriegs

Eichborn 2001, AB 204, 348 S.

Was bringt einen deutschen Schriftsteller dazu, seinen Schreibtisch zu verlassen und jahrelang die ungemütlichsten Regionen unserer Welt aufzusuchen? H. C. Buch hat kaum einen Schreckensort ausgelassen. Seine Reportagen handeln von Ost-Timor und Tschetschenien, Kambodscha und Algerien, dem Kosovo und dem Sudan, von Ruanda, Sierra Leone, Haiti... Eine schier endlose Liste. Es sind die gefährlichsten Bruchstellen der Weltgesellschaft, die ihn anziehen, und was er als Augenzeuge beschreibt, ist die finsterste Kehrseite der Globalisierung.

Gewiß sind es in erster Linie die Opfer und die Täter des Bürgerkriegs, an die der Autor erinnert; aber er richtet den Blick auch auf unsere Abgesandten, die Helfer und die Beobachter. Auf diese Weise gewinnen seine Berichte eine andere Dimension, die der Selbstprüfung. Indem er vom Herz der Finsternis spricht, kommt Buch sich und uns näher als jeder Spendenaufruf und jede Fernsehreportage.

Diese fortwährende Reflexion rahmt seine zehn großen Erfahrungsberichte ein und durchbricht sie in Gestalt eines langen Essays. In vier Teilen spricht der Schriftsteller über jene Grenzen von Journalismus und Literatur, die er bei seiner Arbeit fortwährend überschreitet. Dabei zeigt sich, wodurch er dem Korrespondenten der Medien überlegen ist: durch seine Fähigkeit zum Zweifel und durch sein kulturelles Gedächtnis. Kaum ein Reporter würde sich auf so überraschende und illustre Kronzeugen und Vorbilder berufen wie H. C. Buch. In seinem Essay zeigt er, daß Lessing, Goethe und Kleist, Tolstoi, Orwell und Lu Xun mehr über Schlächter und Voyeure wußten als Tagesschau und CNN.

Hans Christoph Buch, Erzähler, Essayist und Reporter, ist 1944 in Wetzlar geboren und lebt, wenn er nicht unterwegs ist, in Berlin. Zuletzt sind von ihm die folgenden Bücher erschienen: »Die Nähe und die Ferne« (1991), »Die neue Weltunordnung« (1996) und »In Kafkas Schloß« (1999).


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© Ralf 2006