AB - Die Andere Bibliothek 2005


Alberto Saviano: Mein privates Lexikon
Antonio S. Byatt: Stern- und Geisterstunden
Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer
Roswitha Quadflieg: Requiem für Jakob
Friedrich Schiller: Schillers Pitaval
Reinhard Kaiser, Elena Balzamo: Warum der Schnee weiß ist
John Reed: Eine Revolutionsballade. Mexico 1914
August Strindberg: Das Blaue Buch
Otto Kallscheuer: Die Wissenschaft vom Lieben Gott
Veronica Buckley: Christna - Königin von Schweden
Bernard Dupriez, Reinhard Krüger: Gradus ad Parnassum
Ryszard Kapuscinski: Meine Reisen mit Herodot


Alberto Savinio: Mein privates Lexikon

Eichborn 2005, AB 241, 491 S.

»Ich bin so unzufrieden mit den Enzyklopädien, daß ich mir diese hier für meinen persönlichen Gebrauch geschrieben habe«, sagt Savinio und stellt damit klar, daß er zu den eigensinnigsten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts zählt. Leonardo Sciascia hat behauptet, man habe es mit »dem größten italienischen Schriftsteller seiner Zeit« zu tun. Das mag eine Übertreibung sein. Fest steht allerdings, daß ihn an Extravaganz keiner übertrifft.

Savinio paßt in keine Schublade. Man kann in ihm einen Traditionalisten, einen Aristokraten sehen. Doch stand er mit der europäischen Avantgarde auf Du und Du, war befreundet mit Picasso, Apollinaire und den Surrealisten, wetteiferte mit seinem Bruder Giorgio de Chirico und tat sich als Maler, Komponist, Choreograph und Reporter hervor.

Doch vor allem war Savinio ein bedeutender Essayist, und so ist es kein Wunder, daß sein Privates Lexikon aus höchst originellen Aufsätzen besteht. Das Alphabet erlaubt es ihm, mit der größten Unbefangenheit von einem Thema zum andern zu springen: von der Allwissenheit zur Amöbe, von Don Quichotte zum Druckfehler, von der Solidarität zu den Süßspeisen und vom Ziborium zur Zoographie.

»Das Unendliche ist eine Frage der Atmosphäre« - »Die Kunst ist heidnisch« - »Ich habe keine große Erfahrung mit Gefängnissen«: Mit solchen Sätzen schlägt der Essayist einen leichten Ton an, der verführerisch ist und uns immer tiefer in das Labyrinth seiner Gedanken lockt.

Alberto Sovinio wurde 1891 in Athen geboren und starb 1952 in Rom. Er studierte Musik bei Max Reger in München und verbrachte lange Jahre in Paris. Von seinem weitverzweigten Werk geben die folgenden Titel einen Eindruck: »Ascolto il tuo cuore, città«/»Stadt, ich lausche deinem Herzen« (deutsch 1989); »Tutta la vita«/»Das ganze Leben« (deutsch 1991), »Infanzia di Nivasio Dolcemare«/»Die Kindheit des Nivasio Dolcemare« (deutsch 1996).


Antonia S. Byatt: Stern- und Geisterstunden

Eichborn 2005, AB 242, 341 S.

Zwei Kinder, die der Weltkrieg in ein abgelegenes Heim verschlagen hat, begegnen im Wald einem Monster; noch ein Menschenalter später rätseln sie, ob diese unvergeßliche, quälende Erscheinung eine Halluzination war oder ein Lindwurm. Der Untermieter einer pensionierten Lehrerin wird von einem Phantom heimgesucht; es ist der verstorbene Sohn seiner Gastgeberin, der im Garten des Hauses leibhaftig vor ihm steht. Eine Frau entdeckt, daß sie allmählich versteinert. Einem Gynäkologen stößt im Keller der Klinik, wo eine Sammlung von musealen Geburtszangen, Prothesen und Föten in Spiritus vor sich hindämmert, eine fatale Liebesgeschichte zu. A. S. Byatt erzählt solche Geschichten mit skrupulöser, quasi photographischer Genauigkeit, aber durch den vertrauten Alltag schleicht sich die Unheimlichkeit uralter Märchen ein.

Eine dieser Erzählungen trägt den Titel »Body Art«. Er kann als Leitfaden durch das ganze Buch dienen. Denn die Traumata und Obsessionen, von denen es handelt, Trauer und Angst, Scham und Wahn - sie gehen den Personen buchstäblich unter die Haut. Mit der Sonde ihrer Phantasie läßt Byatt, eine Meisterin des Untergründigen, den psychologischen Roman hinter sich. Sie zeigt uns vieles, was wir nie bemerkt, nie für möglich gehalten hätten, und was den Schrecken, aber auch das Wunder unserer Existenz ausmacht.

A. S. Byatt, 1936 in Yorkshire geboren, studierte in Cambridge und lehrte am University College of London, bevor sie sich ganz der literarischen Arbeit widmete. 1990 wurde sie mit dem »Booker Prize« ausgezeichnet. Zahlreiche ihrer Bücher wurden ins Deutsche übersetzt, so »Possession«, 1990 (Besessen, 1993), und zuletzt »The Biographer's Tale«, 2000 (Das Geheimnis des Biographen, 2001).


Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer

Eichborn 2005, AB 243, 471 S.

Ein paar junge Leute machten sich anno 1750, um ihre Miete zu bezahlen, an eine bescheidene Arbeit: Sie übersetzten ein simples Lexikon aus dem Englischen. Im Lauf der Zeit wuchs sich dieses Vorhaben zum größten verlegerischen Unternehmen des Jahrhunderts aus, zu einem Werk, das derart gefährlich und subversiv war, daß seinen Urhebern das Gefängnis, wenn nicht gar die Hinrichtung drohte. Die Zensur war ihnen ständig auf den Fersen, und der Papst belegte es mit dem Kirchenbann. Am Ende lagen 27 Bände mit 72000 Artikeln, 16500 Seiten, 2 900 Illustrationen und 17 Millionen Wörtern vor.

Die Autoren der Encyclopédie zählten zu den größten Geistern ihrer Zeit. Neben den Herausgebern Diderot, d'Alembert und de Jaucourt waren Voltaire, Rousseau und Hunderte von andern mit von der Partie. Dieses einzigartige intellektuelle Abenteuer schildert der Historiker und Romancier Philipp Blom mit viel Witz, Elan und Verve. Seine Erzählung beruht auf intimen Quellenkenntnissen, doch sie schlägt einen Ton an, der uns ihre Helden so nahebringt, als sähen wir ihnen in einem spannenden Film zu, der von innigen Freundschaften und spektakulären Konflikten handelt, von Mut und Beharrlichkeit angesichts ständiger Gefahr, von Liebschaften, Enttäuschungen und Triumphen.

Philipp Blom ist 1970 in Hamburg geboren. Er hat in Wien und Oxford studiert und in London als Journalist und Übersetzer gearbeitet. Heute lebt er in Paris. Sein Roman »Die Simmons-Papiere« ist 1997 in Berlin erschienen. In der ANDEREN BIBLIOTHEK liegt seit 2004 sein großer Essay »Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus der Geschichte einer Leidenschaft« vor.


Roswitha Quadflieg: Requiem für Jakob

Eichborn 2005, AB 244, 347 S.

Eine Hamburger Autorin und Buchkünstlerin, Gründerin der exquisiten Raamin-Presse, hat, wie sie selber sagt, ihr bisheriges Leben auf den Kopf gestellt, um den Spuren eines Unbekannten zu folgen. Der Anti-Held ihrer Recherche ist ein deutsch-französischer Jude, der 1997 mit 91 Jahren gestorben ist. Auch seine Familie lebt nicht mehr. Ein paar Fotos, ein paar Akten, auf die sie durch Zufall gestoßen ist, sind der Anfang. Sie befragt zweihundert Zeugen, wühlt sich durch mehr als zweitausend Seiten Gerichtsakten, schreibt zahllose Briefe und kämpft mit der Bürokratie von sechs Ländern - alles, um das Schicksal eines Mannes zu erforschen, der sie fasziniert und vor viele Rätsel stellt.

Jakob Birnbaum wechselte Länder und Identitäten, Namen und Lebensläufe, Religionen und Berufe je nach den Situationen und Zwickmühlen, in die er geriet. 33 Jahre seines Lebens hat er in Gefängnissen verbracht, als Dieb, Betrüger, Hochstapler oder Fälscher. Nach 1940 hat er nicht, wie er behauptete, der Resistance angehört, sondern als Informant für die Deutschen gearbeitet. Nach dem Krieg machte er »Karriere« in der deutschen Psychiatrie. Er glaubte sich von Geheimdiensten verfolgt und gefoltert, demonstrierte vor dem Bundestag und führte endlose Prozesse um Wiedergutmachung.

Aber Jakob war auch ein Charmeur, ein Frauenheld, ein Spieler und ein erfolgreicher Geschäftsmann. Zuletzt lebte er von Sozialhilfe in Altona, tingelte durch Agenturen und verdingte sich als Modell. Dieser rätselhafte Mensch erscheint hier, fern aller denunziatorischen Rechthaberei, als Opfer und Täter zugleich.

Roswitha Quadflieg, geboren in Zürich, hat nicht nur in dreißig Jahren 28 Drucke ihrer Presse hervorgebracht; sie ist auch als Autorin hervorgetreten. Ihre wichtigsten Bücher sind: »Der Tod meines Bruders« (1985), »Die Braut im Park« (1991), »Bis dann« (1994), »Wer war Christian Lau« (1996) und »Alles Gute« (1999).


Friedrich Schiller: Schillers Pitaval

Eichborn 2005, AB 245, 451 S.

Schiller, der sich zeit seines Lebens mit Geldproblemen herumschlagen mußte, wäre heute reich. Er hätte die rasanten Drehbücher geschrieben, an denen es dem deutschen Film fehlt; vielleicht wäre er - wer weiß - sogar in Hollywood gelandet. Denn er hatte einen untrüglichen Sinn für gute Stoffe, ein dramaturgisches Können von hohen Graden und keine Angst vor sensationellen Geschichten.

Es waren vor allem spannende Kriminalfälle, die ihn interessierten. Nicht nur in seinen Stücken, auch in seiner Prosa spielen sie eine große Rolle. Kein Wunder, daß er zu der wichtigsten zeitgenössischen Quelle für solche Affären griff: dem berühmten Pitaval des gleichnamigen Verfassers. Eine Auswahl davon hat er 1792-1795 getroffen, herausgegeben und mit einer Vorrede versehen. Dieses Werk ist seit langem nicht mehr greifbar. Hier werden die besten dieser Geschichten in einer sorgfältigen Edition neu vorgelegt, zusammen mit Schillers eigenen Erzählungen, die dem Kriminal-Genre zuzurechnen sind.

Nicht, als hätte Schiller Lust gehabt, mit der Trivialliteratur der Zeit zu konkurrieren: Sein Interesse galt nämlich vor allem der politischen Dimension der Fälle, die er aufgriff. Alle diese Texte sind aufgeladen von einer heftigen Kritik an der Justiz seiner Zeit. »Beispiele von der Unzuverlässigkeit der Aussagen, welche durch die Tortur erhalten werden«: ein solcher Titel zeigt, daß die Probleme, die in Schillers Pitaval verhandelt werden, an Aktualität leider blutwenig verloren haben.

Friedrich Schiller, geboren 1759 in Marbach, mußte sich als schlecht bezahlter Projessor für Geschichte mit Brotarbeiten herumschlagen. Vor zweihundert Jahren ist er in Weimar gestorben.

Oliver Tekolf hat als Philologe für den Münchner K. G. Saur Verlag gearbeitet.


Reinhard Kaiser, Elena Balzamo: Warum der Schnee weiß ist. Märchenhafte Welterklärungen

Eichborn 2005, AB 246, 303 S.

Warum? Mit dieser ewigen Frage geht jedes Kind seinen Eltern auf die Nerven, vor allem dann, wenn sie um die Antwort verlegen sind. Manche Menschen hören ihrer Lebtage nicht mit dieser Fragerei auf. Diese Leute nennt man Wissenschaftler. Warum ist das Meerwasser salzig? Warum baut der Kuckuck kein Nest? Warum nimmt der Mond zu und ab?

Nicht nur die Gelehrten wollten wissen, wo die Sternschnuppen herkommen, wie der Blitz entsteht und warum viele Männer Glatzen haben. Längst bevor es Forschungsstipendien gab, hat sich die Menschheit darüber den Kopf zerbrochen, wie der Planet, auf dem sie lebt, geboren wurde und wie es kommt, daß aus der Vereinigung von Mann und Frau Kinder hervorgehen.

Die originellsten Antworten auf solche und viele andere Quizfragen finden sich in den Märchen aller Völker. Reinhard Kaiser und Elena Balzamo haben sie durchmustert und aus diesen Quellen eine kleine Enzyklopädie phantastischer und wundersamer Welterklärungen gewonnen.

Der Leser erfährt aus diesern Buch alles über den Ursprung der Deutschen, über die Erschaffung der Geige, über das Niesen und den Neid, über das Nordlicht, die Milchstraße und den Maulwurf. Es sind aber keine Lexikonartikel, aus denen dieses Weltwissen stammt, sondern amüsante und nachdenkliche, witzige und riskante Geschichten aus dem Märchenschatz von beinah dreißig Ländern.

Reinhord Kaiser lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Seinejüngsten Publikationen sind »Eos' Gelüst« (1995), »Königskinder« (1996), »Dies Kind soll leben« (2000) und »Unerhörte Rettung« (2004). Der ANDEREN BIBLIOTHEK ist Kaiser seit ihren Anfängen als Übersetzer und Essayist eng verbunden. Zuletzt erschien dort in seiner Übersetzung E. H. Carrs russischer Familienroman »Romantiker der Revolution« (2004).

Elene Bolzamo lebt als Autorin und Übersetzerin in Chartres. Sie hat Werke von Almqvist, Strindberg, Söderberg u. a aus dem Schwedischen ins Französische übersetzt.


John Reed: Eine Revolutionsballade. Mexico 1914

Eichborn 2005, AB 247, 351 S.

»Mein sehr verehrter und geschätzter Herr! Sollten Sie es wagen, die Stadt Ojinaga zu betreten, so werde ich Sie mit dem Gesicht an die Wand stellen lassen, und es wird mir persönlich ein großes Vergnügen sein, Furchen in Ihren Rücken zu schießen«, schreibt dem Verfasser ein mexikanischer General. »Dennoch«, sagt der Reporter, »watete ich eines Tages durch den Fluß und stieg zur Stadt hinauf«

So beginnt John Reeds Bericht von einer Revolution, an die sich in Europa kaum noch jemand erinnert. Der siebenundzwanzigjährige ahnungslose Amerikaner stürzt sich in die ersten Scharmützel eines blutigen, wirren, grausamen Bürgerkriegs, der zehn Jahre dauern sollte. Er hat kein revolutionäres Heldenepos geschrieben, sondern die Chronik eines tragikomischen Tohuwabohus, voller Sympathie mit den Kämpfern, Opfern und Randfiguren des Aufruhrs. Sein unbefangener Blick, sein Mut, sein balladesker Stil und sein Humor bringen dem Leser eine ferne Welt näher, als es die faktenreichste Historiographie vermag.

John Reed ist einer der wenigen Reporter, denen ein langer Nachruhm beschieden war. Aber dieses Renommee beruht auf einem einzigen Buch: Zehn Tage, die die Welt erschütterten (1919). Diese ziemlich linientreue Schilderung der Oktoberrevolution hat ihn zu einem Idol der Kommunisten gemacht. Um so mehr überrascht die Frische seines Mexiko-Berichtes, der sich keinen Deut um ideologische Fragen schert, sondern hautnah beim ungeheuren Alltag bleibt.

Geboren 1887 in Portland, Oregon, als Sohn reicher Eltern, wurde John Reed zum Gründer der ersten Kommunistischen Partei der USA. Er starb 1920 in der Sowjetunion und wurde an der Kremlmauer beigesetzt. Hollywood hat ihm einen Spielfilm von Warren Beatty gewidmet. Reds (1981).


August Strindberg: Das Blaue Buch

Eichborn 2005, AB 248, 423 S.

Noch einem phantastischeren Buch kann man in der Weltliteratur lange suchen. Es handelt von Gott und der Welt, von Mathematik und von den Frauen, von Botanik und Okkultismus, Sprache und Religion. Unergründlich verschwistern sich in Strindbergs Buch, das er »die Synthese meines Lebens« nennt, Naturalismus und Metaphysik, Empirie und Spekulation. Gewidmet hat er es dem Mystiker Emanuel Swedenborg.

Aber seine kabbalistische Weisheitslehre ist durchschossen von einer erbitterten Zeitkritik. Von einer Seite zur andern wechsel der Tonfall. Man sieht dem Autor zu, wie er grübelt und wütet, sinnt und höhnt. Mit seiner »kontrainduktiven Methode«, die das Verfahren der Surrealisten vorwegnimmt, brüskiert er die moderne Wissenschaft und provoziert nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch den heutigen Leser.

Die plötzlichen Eingebungen, die ihn heimsuchen, entzünden sich an den banalsten Alltagserscheinungen. Die Nummer an einer Straßenbahn, der Flug eines Fischadlers: Alles, was Strindberg beobachtet, kann halluzinatorische Ahnungen bei ihm auslösen. Und so verschwimmt auch vor den Augen des Lesers die Grenze zwischen schlichter Wahrnehmung und mystischer Erfahrung, zwischen Realität und Esoterik.

August Strindberg wurde 1849 in Stockholm geboren und starb dort, nach langjährigen Auslandsaufenthalten, 1912. Er hinterließ ein riesiges Werk.


Otto Kallscheuer: Die Wissenschaft vom Lieben Gott

Eichborn 2006, AB 249, 488 S.

Es ist schon sonderbar, daß eine alte Leitwissenschaft, auf die sich die besten Köpfe Europas jahrhundertelang konzentriert haben, derart in Vergessenheit geraten ist. Ein Publikum, das sich aufgeklärt dünkt, scheint sich von einem der größten intellektuellen Abenteuer der europäischen Geschichte definitiv verabschiedet zu haben.

Otto Kallscheuers Buch wird diesem Zustand nicht abhelfen können. Aber es hat demjenigen viel zu bieten, der verstanden hat, daß die Religionen keineswegs vom historischen Horizont verschwunden sind - eher im Gegenteil. Kallscheuer nimmt sie ernst, ohne in den Tonfall der Dogmatiker zu verfallen.

Er führt mit der Leserin, dem Leser einen fortlaufenden Dialog, der keiner Frage, keinem Zweifel und keiner Kritik ausweicht. Seine Darstellung ist von einer gründlichen Quellenkenntnis gesättigt. Nicht nur werden die Positionen der großen Kirchenlehrer, der »doctorum venerabilium«, von Augustinus bis Ratzinger erörtert. Auch Vergessene und Abweichler von Nikolaus von Kues bis Karl Barth kommen zu Wort, und zu jeder wichtigen Frage nimmt Kallscheuer in den Blick, wie die anderen Hochreligionen sie beantworten: der Islam, der Hinduismus und die buddhistischen Lehren.

Otto Kallscheuer, der an diesem Werk zehn Jahre lang gearbeitet hat, ist 1950 im Rheinland geboren; er lebt auf Sardinien und in Berlin. Als Politikwissenschaftler und Philosoph lehrte und forschte er an der Freien Universität Berlin und am Institute for Advanced Study an der Universität Princeton, New Jersey. Seine wichtigsten Publikationen sind: »Glaubensfragen« (1991), »Gottes und Volkes Stimme« (1994) und »Das Europa der Religionen« (1996).


Veronica Buckley: Christina - Königin von Schweden

Eichborn 2005, AB 250, 555 S.

Königin wollte sie eigentlich gar nicht sein - und nicht nur deshalb war sie bereits zu Lebzeiten so berühmt und so berüchtigt wie kaum je eine andere Regentin vor ihr. Christina, Königin von Schweden, dankt mit 27 Jahren ab, tritt ein knappes Jahr später öffentlich zum katholischen Glauben über und zieht nach Rom, in die Stadt ihrer Sehnsucht. Sie will weder heiraten noch Kinder kriegen. Sie ist eine gute Jägerin und haßt Handarbeiten, Alkohol und Trunkenheit. Ihre Stimme ist dunkel, sie bewegt sich wie ein Mann und trägt nach ihrer Abdankung gern Männerkleidung. Die Frage ihrer Sexualität ist bis auf den heutigen Tag ein willkommener Anlaß zu den wildesten Spekulationen.

Anhand zahlreicher Originaldokumente in schwedischen, italienischen, vatikanischen, französischen und deutschen Archiven zeichnet Veronica Buckley den Lebensweg Christinas in den unruhigen Zeitläufen Europas des 17. Jahrhunderts nach. Ihre Darstellung ist gespickt mit Fakten, Anekdoten, Zitaten und kuriosen Funden, die das politische, religiöse und geistige Leben der Zeit zum Leuchten bringen.

Veronica Buckley, in Neuseeland geboren, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Philipp Blom, in Paris. »Christina - Königin von Schweden« ist ihr erstes Buch. Die Originalausgabe ist 2004 bei Fourth Estatel/Harper Collins in London erschienen.


Bernard Dupriez, Reinhard Krüger: Gradus ad Parnassum

Eichborn, AB 251
der Band war zwar angekündigt, ist aber nie erschienen

»Der gütige Gatte geifert giftige Galle«, heißt es bei Heinz Erhardt, während seine »Gattin gerade Gewürzgurke gegessen« hat - daß das quecksilbern klingt, merkt jeder, und viele wissen wahrscheinlich, daß es sich bei dieser Kunstfigur der deutschen Sprache um eine Alliteration handelt. Weniger bekannt ist allerdings, daß wir es mit einer Anadiplose zu tun haben, wenn Goethe dichtet: »Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen / Wind und Wellen spielen nicht mit seinem Herzen.« Und die recht umgangssprachliche Lebensweisheit »Lieber 'ne Kanne Bier als 'ne Wanne Eickel« hört als Sprachfigur auf den gelehrten griechischen Namen Katachrese, wobei die Idee, daß eine Spielfigur auf einen Namen hören kann, selbst schon wieder eine Katachrese, nämlich ein Mißbrauch des Bildes ist.

Kunstgriffe und Sprachfiguren dieser Art sind die Helden des Buches von Bernard Dupriez und Reinhard Krüger, die in diesem Gradus ad Parnassum eine Vielzahl von Begriffen aus der Geschichte von Rhetorik und Stilistik zusammentragen und mit Beispielen vor allem aus der deutschen, englischen, französischen, italienischen und spanischen Sprache und Literatur zum Klingen bringen.

Sprache darf auch Spaß machen - und so ist dieses Buch nicht als systematischer Traktat der Rhetorik und Stilistik entstanden, sondern als Handbuch, in dem man blättern kann und soll, als ein Lust- und Nutzbuch, in dem wir unsere Sprache kennenlernen, und als eine Sprachschatztruhe, die auf eindrückliche Weise beweist, was man mit aneinandergereihten Buchstaben so alles anstellen kann.

Bernard Dupriez, geboren 1933 in Séraing, Belgien, Mitglied des groupe m, lehrte an der Université de Montréal. Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen. Bernard Dupriez lebt in Montréal.

Reinhard Krüger, geboren 1951 in Berlin, lehrt Romanistik (Literatur- und Kulturwissenschaft) an der Universität Stuttgart. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter »Die französische Renaissance. Literatur, Gesellschaft und Kultur des 14. bis 16. Jahrhunderts« (2001), »Poeta Scriptor« (2 Bde., 2005). Er ist Herausgeber von »Romanice« und Mitherausgeber von »Körper-Zeichen-Kultur« sowie Autor zahlreicher Quellenschriften zur Geschichte der Körpersprache.


Ryszard Kapuscinski: Meine Reisen mit Herodot

Eichborn 2005, AB 252, 363 S.

Schon immer war er von ihm fasziniert. Und bis heute ist er für ihn der Größte. Wann und wohin auch immer Ryszard Kapuscinski unterwegs war - Herodot war dabei. Anfangs war es gar nicht so leicht, an ein Exemplar von dessen Historien zu kommen - denn in Polen gab es keine Übersetzung davon. Und als die fertig vorlag, durfte sie nicht gedruckt werden: Stalin lag im Sterben, und das jahrtausendealte Buch erzählt mindestens ebensoviel vom Zerfall wie von der Schaffung riesiger Reiche, ebenso erschütternd vom Sturz der Mächtigen wie von ihrem Aufstieg.

Erst 1954 kam der junge Ryszard Kapuściński mit dem Buch in Berührung - und es erwies sich als Erleuchtung. Da war einer - von Neugier und Wissensdurst getrieben - aufgebrochen, die Grenzen der bekannten Welt auszuloten, mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, oder sich wenigstens von Augenzeugen berichten zu lassen, was sich auf der Welt zugetragen hat. Herodot war kein Händler, Spion, Diplomat oder Tourist, sondern - wie später auch Ryszard Kapuscinski - Reporter, Anthropologe, Ethnograph und Schriftsteller.

Ryszard Kapuściński erzählt, wie er mit Herodot nach Afrika, Asien und in Europa reist, was er an den Stellen findet, von denen einst der alte Grieche schrieb, welche Konflikte von heute ihre Wurzeln schon damals hatten und wie die Überlieferung menschlicher Geschichte funktioniert.

Ryszard Kapuściński, 1932 in der Kleinstadt Pinsk geboren, die heute zu Rußland gehört, gilt als »Reporter des Jahrhunderts«. In der ANDEREN BIBLIOTHEK sind erschienen: »Afrikanisches Fieber«, »Imperium«, »Der Fußballkrieg«, »König der Könige«. Im Eichborn Verlag ferner: »Lapidarium«, »Wieder ein Tag Leben«, »Schah-in-Schah«, »Die Welt im Notizbuch«, »Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies«.

Herodot von Halikarnassos (ca. 484-425 v. Chr.) ist der erste Reporter der Welt. Seine Historien loten die Grenzen der damaligen Welt aus, halten die Geschichten ihrer Bewohnerfest und sind ein unerschöpflicher Quell faszinierender Erzählungen.


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© Ralf 2006