AB - Die Andere Bibliothek 2010


Sheilah Graham: Die furchtlosen Memoiren der Sheilah Graham
Gerhard Henschel: Menetekel
Kati Marton: Die Flucht der Genies
Stig Dagerman: Schwedische Hochzeitsnacht
Friedrich Sieburg: Die Lust am Untergang
David R. Slavitt: Alice über alles
Eckart Kleßmann: Goethe und seine lieben Deutschen
Kerstin Holm: Moskaus Macht und Musen
Antje Vollmer: Doppelleben
Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage / Der seltsame Springinsfeld
James Palmer: Der blutige weiße Baron
Karl-Wilhelm Weeber: Rom sei Dank!


Sheilah Graham: Die furchtlosen Memoiren der Sheilah Graham

Ein autobiographischer Roman, aus dem Englischen von Marguerite Schlüter.
(OT Beloved Infidel. The Education of a Woman 1958, mit Gerold Frank)

Eichborn 2010, AB 301, 379 S.

Glamourös, intelligent, ergreifend: Eine Emanzipationsgeschichte aus dem Herzen Hollywoods

Eine unwahrscheinliche, aber wahre Geschichte:

In ärmsten Verhältnissen in den Slums von London geboren, im Waisenhaus aufgewachsen, zur Näherin ausgebildet, dann Dienstmädchen in Londoner Herrenhäusern, doch alsbald umschwärmte Tänzerin in anzüglichen Revuen — die Biographie der lebenslustigen Sheilah Graham mutet an wie ein Filmstoff aus dem Hollywood der 40er und 50er Jahre. Und genau dort feiert die in die USA ausgewanderte, bildschöne Engländerin ihre größten Triumphe als Kolumnistin. Sie unterhält Amerikas kinoverliebte Provinz mit Märchen und Schauergeschichten aus der Traumfabrik. Das Aufsteigerschicksal gipfelt in der bitteren und traurigen Liaison der Autorin mit dem Dichter F. Scott Fitzgerald (Der große Gatsby). Fast drei Jahre lang lebt Sheilah Graham mit dem Dichter zusammen. Der damals fast schon vergessene, inzwischen erfolglose Fitzgerald findet Halt in der Beziehung zu der Journalistin - und fällt immer wieder in seinen schweren Alkoholismus zurück. Seine große Zeit ist vorüber, Hollywood schiebt den Dichter beiseite, völlig vereinsamt stirbt er an der Seite seiner neuen unglücklichen Liebe.

Diese Memoiren zeigen das glamouröse London der 20er  und 30er Jahre und lassen die Zeit aufleben, in der Amerikas Filmindustrie die Vereinigten Staaten mit mythisch gewordenen Filmen neu erfand.

Sheilah Graham, als Lily Sheil 1904 in London in ärmlichsten Verhältnissen geboren und von der Mutter mit sechs Jahren in ein Waisenhaus gegeben, schaffte den Sprung nach Hollywood und wurde dort als Sheilah Graham eine der erfolgreichsten Kolumnistinnen ihrer Zeit. 1988 starb sie in Palm Beach, Florida.



Gerhard Henschel: Menetekel

3000 Jahre Untergang des Abendlandes

Eichborn 2010, AB 302, 370 S.

»Soviel ergötzliches Unglück war nie:
Eine Parade der Unheilsverkünder aus 3000 Jahren«

Nach allem, was wir von unseren Vorfahren wissen, sind die Klagen über den Verfall der guten Sitten so alt wie die Menschheit. Und häufig waren sich die Herren der Apokalypse schnell einig darüber, wer am Niedergang aller  Werte eigentlich Schuld hat: die Frauen, besser gesagt: das Weib, das sinnliche. Schon im zweiten Jahrhundert malte sich ein christlicher Schwarzmaler die Hölle aus: Dort würden »Weiber an ihren Flechten über jenem aufsiedenden Koth aufgehängt; das waren die, welche sich zum Ehebruch geschmückt hatten; die aber, die sich mit dem Miasma des Ehebruchs jener Weiber befleckt hatten, waren an den Füßen aufgehängt und hatten die Köpfe in jenem Koth ...«

Die Angst vor der Verführung ist so verbreitet wie die Flucht davor: die lustfeindlichen Endzeitpropheten des Mittelalters rückten den christianisierten Sündern mit grausamen Unheilsvisionen zu Leibe. Im Zeitalter der Aufklärung meldeten sich Gegenaufklärer zu Wort, die mit der Anerkennung des Rechts auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen gleich den Fortbestand der Menschheit gefährdet sahen. Auch danach sind die Völker des Abendlands noch von unzähligen Mahnern und Warnern zu den Waffen gerufen worden und oft genug Propheten gefolgt, die ihnen einreden wollten, daß es redlicher und Gott wohlgefälliger sei, einen Massenmord zu begehen als einen Seitensprung.

In seinem Buch nimmt der »Zivilist« Gerhard Henschel eine Parade der Unheilsverkünder ab - von den Kirchenvätern über die Frühhumanisten und den Poeten der Befreiungskriege bis hin zu Osama bin Laden, und er rät zur Gelassenheit im Umgang mit allen Apokalyptikern.

»Ich weiß wohl, dass jeder denkende Mensch seine Zeit für die allererbärmlichste hält: aber ich muss gestehen, daß ich von der Illusion nicht frei bin.« Arthur Schopenhauer.

Gerhard Henschel, geboren 1962, lebt als freier Schriftsteller in der Nähe von Hamburg. Zuletzt erschienen seine Bücher Neidgeschrei. Antisemitismus und Sexualität (2008), Die Springer-Bibel. Ein Panorama der Mediengeschichte (2008) und Da mal nachhaken. Näheres über Walter Kempowski (2009) und Jugendroman (2009).



Kati Marton: Die Flucht der Genies

Neun ungarische Juden verändern die Welt
Eine literarische Reportage

Eichborn 2010, AB 303, 382 S.
(OT The Great Escape, Nine Jews Who Fled Hitler and Changed the World, 2006)
Aus dem Englischen von Ruth Keen

»Wie kann eine einzige Stadt so unterschiedliche Genies hervorbringen?«

Arthur Koestler, André Kertész und Ropert Capa. Michael Curtiz und Alexander Korda. Léo Szilárd, Eugene Wigner, John von Neumann und Edward Teller. Neun ungarische Genies, die in Budapest aufwuchsen, ihre Heimat verlassen und ins englische und amerikanische Exil  fliehen mussten. Eine Spurensuche.

Kein anderes Land Europas hat, gemessen an seiner Bevölkerungszahl, so viele Nobelpreisträger hervorgebracht wie Ungarn. Kati Marton schildert das Schicksal von neun hochtalentierten ungarischen Juden, die erst vor den Schrecken der Horthy-Diktatur und dann vor den Verbrechern des Nationalsozialismus flohen und die Welt veränderten. Ohne die Nuklearphysiker und Mathematiker Léo Szilárd, Eugene Wigner, John von Neumann und Edward Teller hätte es die Atombombe nicht gegeben. Die Photographen André Kertész und Ropert Capa prägten Kunst- und Kriegsphotographie des 20. Jahrhunderts. Der Regisseur Michael Curtiz ist der Schöpfer des unsterblichen Melodrams »Casablanca«. Alexander Korda, Produzent von »Sein oder Nichtsein«, »Anna Karenina« und »Der dritte Mann«, prägte die britische Filmgeschichte wie kein anderer. Arthur Koestler schließlich sollte neben George Orwell als der berühmteste politische Essayist und Schriftsteller in die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts eingehen. Sie alle gehörten zur gleichen Generation und wuchsen während der goldenen Periode Budapests auf.

Die Autorin Kati Marton, die mit ihren Eltern ein Jahr nach dem Aufstand von 1956 auf einer abenteuerlichen Flucht aus Budapest entkam, erzählt die Lebensgeschichten dieser genialen Männer, ohne deren Leistungen in Wissenschaft und Kunst das 20. Jahrhundert nicht vorzustellen ist. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Konzentration von jungen Talenten in einer einzigen Stadt?
Sie ist die Autorin von »Wallenberg« und »Tod in Jerusalem« und lebt in New York.



Stig Dagerman: Schwedische Hochzeitsnacht

Eichborn 2010, AB 304, 285 S.
(OT Bröllpsbesvär 1949)
Aus dem Schwedischen von Herbert G. Hegedo
Mit einem Vorwort von Per Olov Enquist

Ein verstörender Alptraum aus Gewalt und Maßlosigkeit in dörflicher Idylle

»Das junge, in die Irre geführte Genie scheint seine Wurzeln zu suchen, es wird ein seltsamer und wahnsinniger Roman, der letzte Per Olov Enquist

Auch das Glück braucht einen Raum, in dem es sich entfalten kann: Schonungslos schildert Stig Dagerman die Hochzeit des Schlachtermeisters Westlund mit Hildur Palm. Statt ländlicher Idylle offenbart Dagermans sezierender Blick ein grausames Geflecht boshafter Charaktere, die einander in Hass, Habsucht, Neid und sexueller Gier verbunden sind. In der Vorbereitung zum Fest begegnet die Dorfgemeinde sich selbst - und ertränkt das Entsetzen in einer grotesk geschilderten Nacht voll Gewalt und Alkohol.

Stig Dagerman entlarvt das liebliche Bild schwedischer Behaglichkeit zwischen Seen und Wäldern, das nicht nur in Deutschland immer noch vorherrscht. Schwedische Hochzeitsnacht nimmt in seiner verstörenden literarischen Wucht die gesellschafts­kritischen Abrechnungen Ingmar Bergmans mit seinem Land vorweg - und ist zugleich weit mehr als eine lokale Charakterstudie vom Leben in familialer Abhängigkeit und Beschränktheit.

»Je unfreier und armseliger das Leben ist, desto stärker werden unsere Vorstellungen von einem anderen Dasein, vom Leben in Freiheit und Ehre« Stig Dagerman

Stig Dagerman (1923-1954) galt als »Wunderkind der schwedischen Literatur«. Seine empfindsam-kritische Schilderung der zerbombten Hansestadt Hamburg aus dem Jahr 1946 ist den Sesern der Anderen Bibliothek aus Europa in Ruinen bekannt.
Schwedische Hochzeitsnacht, sein letzter Roman, gilt als das Hauptwerk des Dichters, der bei Erscheinen des Buches gerade einmal 26 Jahre alt war.
Stig Dagerman legte zwischen 1945 und 1949 vier Romane und eine Novellen­sammlung vor. Mit einunddreißig Jahren nahm er sich 1954 das Leben.



Friedrich Sieburg: Die Lust am Untergang

Selbstgespräche auf Bundesebene

Mit einem Vorwort von Thea Dorn

Eichborn 2010, AB 305, 419 S.

Die chronische Sehnsucht nach der Apokalypse

Wir Deutsche malen am liebsten schwarz. Wenn uns im Augenblick keine Katastrophe heimsucht, dann sehen wir eine kommen. Wir können, so scheint es, ohne die apokalyptischen Ängste nicht existieren. Niemand durchschaute die dunklen Süchte unserer Seele genauer als der große Zeitkritiker Friedrich Sieburg, einer der brillantesten Stilisten seiner Epoche. Seine Bücher wurden zu Hunderttausenden verkauft. Doch in Deutschland steht sein Werk - anders als in Frankreich - unbeachtet im Schrank. Er war kein Mann der politischen Eindeutigkeit und schon gar nicht des Widerstandes gegen den Nazismus. Und dennoch - oder darum - ist er einer der wichtigsten Zeitgenossen jener Epoche, die er in seiner grandiosen Polemik von 1954 Revue passieren lässt.

Friedrich Sieburg, 1893 in Altena (Westfalen) geboren, 1964 bei Stuttgart gestorben, Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« in Kopenhagen, London und Paris, Autor der Studie Gott in Frankreich, Vorgänger von Marcel Reich-Ranicki in der Literaturredaktion der FAZ.



David Rytman Slavitt: Alice über alles

Die Kinderliebe des genialen Erzählers Lewis Carroll

Eichborn 2010, AB 306, 271 S.

Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer

Ein Stück Weltliteratur - und seine verborgene Wahrheit

Jeder kennt und liebt Alice im Wunderland? Alice über alles ist der realistisch und zugleich anmutig erzählte, freilich auch kompromittierende Roman über die Beziehung des Autors Lewis Carroll zu seinen Kinderfreundinnen - und was das Leben aus ihnen machte.

Im Herbst des Jahres 1932 verlieh die Columbia-Universität in New York in feierlichem Zeremoniell der achtzigjährigen Alice Hargreaves die Würde einer Ehrendoktorin für ihre Verdienste um die Literatur, die sie sich als Vorbild der titelgebenden Figur im genial-absurden Märchen von Lewis Carroll erworben hatte.

David R. Slavitt, Lyriker, Romancier und Übersetzer, hat diese groteske Szenerie nicht erfunden, sie ist historisch verbürgt. Die Auszeichnung galt natürlich nicht nur dem Charme eines Kindes, das die Phantasie des schüchtern-stotternden Universitätsdozenten beflügelte, sondern dem Kauz selber, der in kurioser Mischung Mathematik, klassische Literatur und Theologie am Christ College in Oxford lehrte. Lewis Carroll war, vernarrt in kleine Mädchen, denen auch seine zweite Passion galt: die Fotographie.

Die Ehrendoktorwürde wurde für die alte Alice zum Anlaß, sich der Wahrheit jener fragwürdigen Liebe des so viel älteren Gelehrten zu ihr und zu ihren Nachfolgerinnen zu öffnen. So ist »Alice über alles« der realistisch und zugleich anmutig und kunstvoll ironisch erzählte, freilich auch kompromittierende Roman über die Beziehung des Autors Lewis Carroll zu seinen Kinderfreundinnen - und was das Leben aus ihnen machte.

David R. Slavitt, 1935 in White Plains, New York geboren, bewies in seinem poetischen, erzählerischen und essayistischen Werk, daß er in der Welt der Antike genauso zu Hause ist wie in der von William Shakespeare oder der Moderne. Wie viele amerikanische Schriftsteller hat er lange Jahre an großen Universitäten gelehrt.



Eckart Kleßmann: Goethe und seine lieben Deutschen

Ansichten einer schwierigen Beziehung

Eichborn 2010, AB 307, 309 S.

Nichts Neues aus Weimar? Von wegen - der Alte überrascht noch immer!
Das einzige Goethe-Buch, das uns noch gefehlt hat...

Goethe mag zwar der über alles verehrte deutsche Dichter sein, aber waren die Deutschen auch sein über alles geschätztes Volk?

»Sie mögen mich nicht! Das matte Wort! Ich mag sie auch nicht! Ich habe es ihnen nie recht zu Danke gemacht.« Goethes zornige Bemerkung über die Deutschen charakterisiert das schwierige Verhältnis des Dichters zu seinen Landsleuten - und umgekehrt. Zwar haben ihn die Deutschen zu Lebzeiten respektiert als ihren ersten Dichter, doch geliebt haben sie nicht ihn, sondern Schiller. Goethe hielten sie für einen suspekten Charakter. Seinem Erfolgsbuch Die Leiden des jungen Werther warfen sie vor, er verleite zum Selbstmord; die Römischen Elegien und Wilhelm Meisters Lehrjahre galten als unsittlich, seine Lebensgemeinschaft mit Christiane Vulpius empfand man als skandalös, seine Verehrung für Napoleon als Verrat, sein Verhalten in den »Befreiungskriegen« als unpatriotisch und unwürdig. Auch Goethe hielt sich nicht zurück: Er bezeichnete das deutsche Volk als »achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen«.

Vor dem Hintergrund der Biographie beschreibt Eckart Kleßmanns Studie, mit Kennerschaft und Elan geschrieben, Goethes Beziehung zur deutschen Kunst und Kultur, zur deutschen Sprache, zur deutschen Landschaft. Sie bringt uns sein Plädoyer für eine Weltliteratur wieder nahe, sie beleuchtet sein ambivalentes Verhältnis zum Judentum und zum Islam und seine Vorstellungen von Deutschlands politischer und wirtschaftlicher Verfassung.

Eckart Kleßmann, geboren 1933 in Lemgo, schrieb u.a. Bücher über die deutsche Romantik und mehrere Biographien, darunter E.T.A. Hoffmann (1988), Christiane. Goethes Geliebte und Gefährtin (1992), Napoleon. Ein Charakterbild (2000). Für seine Darstellungen historischer Themen wurde er 1998 mit dem Lion-Feuchtwanger-Preis der Berliner Akademie der Künste ausgezeichnet. Eckart Kleßmann lebt in Mecklenburg. Im Frühjahr 2008 erschien in der Anderen Bibliothek als 281. Band Universitätsmamsellen - Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik.



Kerstin Holm: Moskaus Macht und Musen

Hinter russischen Fassaden

AB – Die Andere Bibliothek 2012, AB 308, 320 S.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfand sich Russland durch Revolution und Stalinismus radikal neu. An seinem Ende wechselte es unter seinem ersten nachsowjetischen Präsidenten Jelzin zum demokratischen Glaubensbekenntnis – das Russland unter Putin ist neoimperial und »seine gelenkte Demokratie« verliert zunehmend an Zustimmung.

Kerstin Holm ist Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Moskau und berichtet seit Jahrzehnten aus diesem von Konflikten zerissenen Imperium. Moskaus Macht und Musen zeichnet vor diesem Hintergrund ein zeitgeschichtliches Panorama, wirft einen Blick hinter die russischen Fassaden – und beschreibt mit enormer Kennerschaft die Selbstdeutung der russischen Gesellschaft in Literatur und Musik. Kerstin Holms »Musen« sind der Romancier Wladimir Sorokin, die Dichterin Alina Wituchnowskaja und die so gegensätzlichen Komponisten Wladimir Martynow und Wladimir Tarnopolski. Von ihnen lässt sie »die menschliche Situation in ihrer russischen Zuspitzung ausleuchten«.

Kerstin Holms über viele Jahr hinweg akribisch recherchiertes Buch Moskaus Macht und Musen bezieht aus diesem ungewöhnlichen Blickwinkel seine Originalität.

Kerstin Holm berichtet seit 1991 als Russland-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Moskau aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion über Kultur im weitesten Sinn. Sie wurde 1958 in Hamburg geboren und studierte Musikwissenschaft, Slawistik, Romanistik und Germanistik.



Antje Vollmer: Doppelleben

Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop
Mit einem Essay von Kilian Heck

Eichborn 2010, AB 309, 413 S.

Einsatz auf Leben und Tod
Die bewegende Doppelbiographie über ein charismatisches Paar, das den Widerstand gegen Hitler wagte.

In ihrer bewegenden Doppelbiographie vergegenwärtigt Antje Vollmer die Familiengeschichten zweier junger Adeliger aus einem heute fernen Ostpreußen, die um der menschlichen Würde willen ihr Leben und das ihrer Töchter und Angehörigen einsetzten.

Das Interesse an den wenigen Deutschen, die den Widerstand gegen Hitler riskierten und nach einer Vielzahl von Versuchen am 20. Juli scheiterten, war in Deutschland nie populär.
Zu den fast vergessenen Mitgliedern der militärischen Fronde gegen Hitler gehört auch Heinrich Graf Lehndorff, der schon 1939/40 zum Kreis um Henning von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauffenberg stieß - und am 4. September 1944, als 35jähriger und nach zwei dramatischen Fluchtversuchen, in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde.

In »Doppelleben« hat Antje Vollmer ein beinahe unbekanntes Kapitel der Verschwörungsgeschichte gegen Hitler neu erschließne und die privaten und politischen Facetten einer tragischen Geschichte des Scheiterns zusammensetzen können: anhand unveröffentlichter Erinnerungen von Gottliebe von Lehndorff, Abschriften von Tonbandgesprächen, ihrer und heinrich von Lehndorffs Briefen - darunter dessen erschütternde, umfassend abgedruckte Abschiedsblätter - und schließlich anhand unbekannten Fotomaterials. Eingebettet in die militärhistorischen Geschehnisse in Deutschland und Europa vor allem seit Kriegsbeginn 1939, werfen wir einen Blick auf die dramatischen Tage und Stunden rund um den 20. Juli 1944.

Und: Hanna Schygulla, eine der großen deutschen Schauspielerinnen und Freundin in den späten Jahren von Gottliebe von Lehndorff, hat das Porträt einer intensiven dreizehnjährigen Nähe zugefügt.

Antje Vollmer, geboren 1943, ist promovierte Theologin und war fast 20 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestags, von 1994 bis 2005 als Bundestagsvizepräsidentin. Sie war als vielbeachtete Publizistin tätig und wurde unter anderem mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille und dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet. Von Václav Havel wurde ihr der Masaryk-Orden verliehen.



Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen:
Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage
Der seltsame Springinsfeld

Zwei simplicianische Romane. Aus dem Deutsch des 17. Jahrhunderts
Übertragen von Reinhard Kaiser

Eichborn 2010, AB 310, 353 S.

»Die stärkste Frau der deutschen Literatur - und ein Gaukler mit Stelzfuß aus dem "Deutschen Krieg"«

So eine Frau kann man lange suchen: wild, unabhängig, wagemutig – und für jeden derben Spaß zu haben. Reinhard Kaiser holt »die Courage« ins Hier und Jetzt zurück – und vergisst auch den seltsamen Herrn Springinsfeld nicht.

Ein Jahr nach dem gewaltigen Erfolg seines »Abenteuerlichen Simplicissimus Deutsch« ließ Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen 1669/70 seinem großen Buch zwei kürzere Romane folgen, deren Protagonisten es in sich haben wie der Simplicissimus: der gelernte Gaukler und Tierstimmenimitator Springinsfeld, der sich zuerst als Soldat und später als Bettler durch die verkehrte Welt seiner Zeit schlägt, und die Landstreicherin, Soldatin, Marketenderin, Hure, siebenmalige Ehefrau und spätere Zigeunerkönigin Courage.

Packend und präzis in jedem Detail erzählen sie von ihrem wüsten Leben und listenreichen Überleben in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Eine atemberaubende Wucht entwickelt hierbei vor allem die Courage, die ohne jede Scheu, Anstoß zu erregen, dem Verfasser in die Feder diktiert, wie es ihr im Kampf der Geschlechter, der sich inmitten des großen Krieges abspielt, ergangen ist. Wer nur das Stück von Brecht gesehen hat, weiß über diese Frau noch lange nicht Bescheid.

Reinhard Kaiser, geboren 1950 in Viersen am Niederrhein, ist der Anderen Bibliothek seit ihren Anfängen durch zahlreiche Übersetzungen und Editionen verbunden. Seine Übertragung von Grimmelshausens Roman »Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch« wurde 2009 ein Bestseller: Es waren die Bände 296/297 der Anderen Bibliothek, die den Auftakt bildeten zu den simplicianischen Schriften. Den Abschluß macht dann Band 328 der Anderen Bibliothek mit dem letzten Roman des simplicianischen Zyklus Das wunderbarliche Vogelnest.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen wurde 1621 oder 1622 im hessischen Gelnhausen geboren. Den Dreißigjährigen Krieg hat er von 1634 bis zum Friedensschluss im Jahre 1648 aus nächster Nähe erlebt - als Pferdejunge, als Soldat und zuletzt als Regimentsschreiber. Später wurde er Burg- und Gutsverwalter am Oberrhein und starb dort als Schultheiß von Renchen im August 1676.



James Palmer: Der blutige weiße Baron

Die Geschichte eines Adligen, der zum letzten Khan der Mongolei wurde

Eichborn 2010, AB 311, 380 S.

(OT The Bloody White Baron)
Aus dem Englischen von Nora Matocza und Gerhard Falkner

Ein Vorschein der blutigen Exzesse des 20. Jahrhunderts.
»Mein Name ist so sehr mit Haß und Angst verbunden, daß niemand beurteilen kann, was wahr und was falsch ist, was Geschichte und was Mythos.«
        Baron von Ungern-Sternberg, 1921

Der Geschichte des 20. Jahrhunderts mangelt es nicht an furchtbaren Despoten. Einer der grausamsten von ihnen ist der 1885 in Graz in eine deutsch-estnische Familie geborene und heute fast vergessene Nicolai Robert Max Baron von Ungern-Sternberg.

Dieser im damaligen Reval aufgewachsene Aristokrat, der Antisemitismus, fromm-fanatischen Buddhismus und einen hasserfüllten Antikommunismus in sich vereinte, sah sich als Krieger-König und Nachfahre eines Dschingis Khan. Mit seiner Truppe aus Weißrussen, Sibirern, Japanern und Mongolen eroberte er 1920 die Mongolei. Während einer 130-tägigen Herrschaft ordnete er an, Kommissare, Kommunisten und Juden zusammen mit ihren Familien zu vernichten. Sein grausamer Kreuzzug gegen den Bolschewismus im russischen Bürgerkrieg sollte den Traum eines frühen Fundamentalisten verwirklichen: ein Großreich, das sich von China bis zum Ural erstreckt.

James Palmer, 1978 geboren, wurde für seinen meisterhaften Reisejournalismus mehrfach ausgezeichnet und lebt in Peking. Als Historiker und Journalist hat er Reisen durch die Mongolei, Russland und China unternommen und russische wie mongolische Berichte von Zeitgenossen ausgewertet, um dem unheimlichen Leben dieser zu Lebzeiten legendären Gestalt in einer erhellenden, weit ausholenden epischen Biographie auf die Spur zu kommen: »In der Mongolei wurde er als Held gerühmt, als Dämon gefürchtet und als Gott verehrt.«



Karl-Wilhelm Weeber: Rom sei Dank!

Warum wir alle Caesars Erben sind

Eichborn 2010, AB 312, 404 S.

»Rom ist nicht Geschichte, sondern Gegenwart«

Was wäre das moderne Europa ohne das vielfältige Erbe, das uns Rom mit auf den Weg gegeben hat? Unsere Architektur, unser Rechtssystem, unsere Sprache, ja auch PR- und Kommunikations­techniken sind ohne Rom nicht denkbar, und selbst in einem zweifelhaft gewordenen Klassiker wie Caesars De Bello Gallico lassen sich mehr aktuelle Bezüge finden, als wir glauben.
Karl-Wilhelm Weeber zeigt, wie sehr römisches Denken und Handeln auch heute noch unsere Mentalität im Alltag bestimmen - auch wenn wir nichts davon wissen.

In seiner unterhaltsam-belehrenden Prosa führt er uns in die antike Welt, etwa eines Caesar oder Augustus, Agrippa oder Vespasian, Cicero oder Catull, um anhand von »Herrschaftstechniken« oder »Inszenierungen der Macht«, »Monumentalisierung der Hygiene« oder »Shows als Unterhaltung«, »Rhetorik« oder »Protestdichtung« zu veranschaulichen, wie unsere heutigen Mentalitäten römisch durchdrungen sind. Der Geschichten- und Geschichtserzähler Weeber ist in Wahrheit ein so bedeutender Pädagoge, weil er ein so talentierter Schriftsteller ist.

Karl-Wilhelm Weeber, 1950 geboren, ist Leiter des Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasiums Wuppertal, Professor für Alte Geschichte an der Universität Wuppertal und Lehrbeauftragter für Didaktik der Alten Sprachen an der Universität Bochum. 2006 erschien in der Anderen Bibliothek sein Buch »Romdeutsch«, in dem er mit großem Erfolg darlegte, wie lebendig die lateinische Sprache noch in unsern Sprachgebrauch hinein wirkt.


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© Ralf 2010