AB - Die Andere Bibliothek 1985


Lukian von Samosata: Lügengeschichten
Driss ben Hamed Charhadi: Ein Leben voller Fallgruben
Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Boris Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen
Peter Christian Asbjørnson, Jørgen Moe: Norwegische Märchen
Henry Charles Lea: Die Inquisition
Vitaliano Brancati: Schöner Antonio
Erika von Hornstein: Flüchtlingsgeschichten
Andreas Thalmayr: Das Wasserzeichen der Poesie
Gyula Illyés: Die Puszta
Jules Amédée Barbey d'Aurevilly: Diabolische Geschichten
Adolphe de Custine: Russische Schatten


Lukian von Samosata: Lügengeschichten und Dialoge

Greno 1985, AB 1, 627 S.

Lukian von Saosata war einer der rhetorischen Super-Stars der Antike. Im 2. Jahrhundert nach Christus war er in der ganzen zivilisierten Welt unterwegs, von einem Auftritt zum anderen: Seine Honorare waren phantastisch, und der zulauf zu seinen Open-air-Festivals war enorm. Aber aus irgendeinem Grund brach dieser geniale Talkmaster, dieser Karajan der Sophistik mit etwa vierzig Jahren seine Karriere ab. Von nun an amüsierte er sich damit, die Industrie bloßzustellen, die ihn so wohl ernährt hatte. Boshaft und scharfsinnig fiel er über seine intellektuellen Kollegen her. Er schrieb ein Lob des Parasitentums und ein Plädoyer für die Lüge. Die akademische Mafia hat Lukian bis heute nicht verzeihen. Was Lukian in seinen Dialogen und Lügengeschichten sagt, ist nicht neu. Aber seine Kritik der Religion, der Ideologie, der Kultur hat den Charme des ersten Mals: sie trampelt nicht, sie kommt auf leichten Füßen daher, sie tanzt.


Driss ben Hamed Charhadi: Ein Leben voller Fallgruben

Greno 1985, AB 2, 351 S.

Seinen richtigen Vater kennt er nicht. Seine Mutter vernachlässigt ihn. Als die Familie nach Tanger zieht, geht er im Gewühl der neuen Stadt verloren. Die erste Liebe findet er bei den Huren, aber am Ende wollen sie ihn vergiften. Er sucht Arbeit und findet selten welche. Sein Stiefvater schimpft ihn einen arbeitsscheuen Taugenichts und nimmt ihm doch alles Geld ab...

Charhadi kann eigentlich nicht Schriftsteller genannte werden, weil er seine Erzählungen (auf das Tonbandgerät von Paul Bowles) gesprochen hat, aber ein Autor ist er im vollen Sinne. So urteilte François Bondy und rühmte Charhadis unverwechselbare »Mischung von Naivität und Erzählerkunst, deren Geheimnis eine schnell vorwärtsdrängende, fast blitzhafte Kürze des Ausdrucks ist«.


Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802

Greno 1985, AB 3, 434 S.
nach der Dritten Auflage, Leipzig 1811

Am 6. Dezember 1801 bricht er von Grimma in Sachsen auf und geht bis nach Syrakus auf Sizilien, wo er am 1. April 1802 ankommt - zu Fuß. Auf dem Rückweg macht er übrigens von Zürich einen Abstecher nach Paris, wo er am 14. Juli Napoleon sieht. Anfang September 1802 ist er wieder in Sachsen. Was er gesehen hat (die Sehenswürdigkeiten am allerwenigsten), wie es ihm erging und was er auf seiner Wanderung erfuhr, das schildert Seume in diesem Reisebericht, der ihn berühmt gemacht hat.

Ihn locken die Sehenswürdigkeiten Italiens weniger als seine Denkwürdigkeiten. Er bringt den Ruinenstädten und Kunstschätzen weniger Interesse entgegen als den politischen und sozialen Verhältnissen. Er ist ein wacher, gewitzter Beobachter, der erzählt, wie es ihm auf seinem Gang ergangen ist und welche Erfahrungen er sich dabei erlaufen hat. Er hat sein Buch geschrieben und lädt uns ein, als Leser, sitzend, in seine Fußstapfen zu treten, mit dem Finger auf der Landkarte…

Über das Gehen schreibt er (1805):
»Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt… Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstständigste in dem Manne, und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deßwegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. Wer zuviel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. Das Gefühl dieser Wahrheit scheint unaustilgbar zu seyn. Wenn die Maschine stecken bleibt, sagt man doch noch immer, als ob man recht sehr thätig dabei wäre: Es will nicht gehen. …Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht: man sehe sich nur um! So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll: man thut nothwenig zuviel, oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«


Boris Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen

Greno 1985,AB 4, 459 S.

Boris Savinkov gehörte im zaristischen Rußland der Sozialrevolutionären Partei an und hat 1904 und 1905 die Attentate auf den russischen Innenminister Plehwe in St.Petersburg und auf den Großfürsten Sergius in Moskau geplant und organisisert. Diese beiden Aktionen bilden die spektakulären Höhepunkte des Buches. Es dokumentiert äußert anschaulich und mit großem erzählerischen Talent die nicht-bolschewistische politische Unterwelt des vorrevolutionären Rußland. Savinkov war zeit seines Lebens, auch als er sich vom Terrorismus abgewandt hatte, ein schillernder Zeitgenosse, der seinen Freunden viele Rätsel aufgab, so wie er seinen Gegnern großen Respekt abnötigte.

Die »zartfühlenden Mörder« hat Albert Camus die Gruppe der Terroristen um Boris Savinkov genannt, die in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts glaubten, sie könnten die versteinerten Verhältnisse im zaristischen Rußland mit Dynamit sprengen, und die doch bloß Einzelne in ihren Kutschen zerfetzten.


Peter Christian Asbjørnsen, Jørgen Moe: Norwegische Märchen

Greno 1985, AB 5, 291 S.

Jeder Norweger kennt sie - die Norwegischen Volksmärchen von Peter Christian Asbjørnsen (1812-1885) und Jørgen Moe (1813-1882) sind im skandinavischen Westen so populär wie bei uns die Märchen der Gebrüder Grimm, und sie gelten als »ein echtes Kind« der 1812 erstmals erschienenen Grimmschen Kinder- und Hausmärchen.

Asbjørnsen und Moe begannen Anfang der dreißiger jahre des 19. Jahrhunderts, Märchen zu sammeln. Die beiden Freunde, damals Mitte zwanzig, ergänzten einander auf das beste: Im Umgang mit dem »kraftstrotzenden, muteren, unmittelbaren« Asbjørnsen, der sich nicht nur als Folklorist, sondern auch als Naturforscher betätigte und von Beruf Förster war, »brauchte das Volk kein Blatt vor den Mund zu nehmen«. Heißt es in der von Mogens Brønsted herausgegebenen Nordischen Literaturgeschichte: »Aber ohne die stets wache Kritik des spekulativeren Jørgen Moe konnte er sich oft unsicher fühlen. Moe, der ein feineres Ohr besaß und außerdem in den Mundarten mehr zu Hause war, wurde im Verlauf der Arbeit gewöhnlich der stilsichere Führer.«

Erstmals erschienen die Norske Folke-Eventyr in den Jahren 1841 bis 1844 in einer Reihe von vier heften. Auf diese Ausgabe geht die unserer Edition zugrunde liegende Übersetzung von Friedrich Breseman (1809-1850) zurück, die 1847 in Berlin erschien.


Henry Charles Lea: Die Inquisition

Greno 1985, AB 6, 605 S.

Der amerikanische Gelehrte Henry Charles Lea (1825 bis 1909) gehört zu den Klassikern der unorthodoxen Kirchengeschichtsschreibung. Sein Werk über die Geschichte der Inquisition im Mittelalter - großartig in seiner erzählerischen Kraft und der Breite seiner Perspektiven, gründlich in seiner Verarbeitung eines gewaltigen Quellenmaterials - ist in vieler Beziehung bis heute unübertroffen. Lea beschreibt das methodische Vorgehen der Inquisitoren beim Aufspüren von Ketzern und Häretikern, bei deren Verfolgung und Vernichtung als ein System der universellen Überwachung und Gesinnungspolizei, das der Kirche angeblich zur Reinerhaltung des Glaubens, in Wirklichkeit jedoch zur Erhaltung und Festigung ihrer eigenen, irdischen Macht diente. Diese Auswahl vor allem aus dem ersten Band von leas voluminöser Geschichte der Inquisition im mittelalter konzentriert sich hauptsächlich auf die Entstehung, Rechtfertigung und Praxis der Inquisition, gleichsam auf die Systematik der Gewissensjustiz.


Vitaliano Brancati: Schöner Antonio

Greno 1985, AB 7, 335 S.

»Wiederzuentdecken ist mit diesem Roman ein Autor, der neben Lampedusa, Vittorini und Sciascia zu den großen sizilianischen Schriftstellern dieses Jahrhunderts gehört... Die Geschichte vom schönen Antonio Magnano aus Catania, der im Ruf steht, ein unwiderstehlicher Frauenheld und dadruch in Mussolinis Diktatur auch politisch einflußreich zu sein, dessen Impotenz aber nach drei Jahren Ehe mit der reichen Notarstochter Barbara offenkundig und zum Skandal wird, ist Brancati Stoff für ein vielschichtiges, farbiges Porträt einer sizilianischen Stadt und ihrer Gesellschaft... Die Sinnlichkeit seiner Sprache, die Eigenwilligkeit seines Stils und seiner Komposition erheben diesen Roman aus der Sizilianischen Provinz in den Rang eines klassischen Werkes dieses Jahrhunderts.« Welt am Sonntag


Erika von Hornstein: Flüchtlingsgeschichten

Greno 1985, AB 8, 454 S.

Uwe Johnson 1961 über dieses Buch:
»Das Buch vermittelt fast zuverlässige Nachrichten über ein dem Westdeutschen nicht vertrautes Gebiet: über Ostdeutschland, indem dreiundvierzig verschiedene Leute erzählen wie sie da gelebt haben, bis sie da nicht blieben. Nicht alle sind recht ehrenwert, tatsächlich nur Manchem möchte man mehr wünschen als eben viel Glück, aber alle zusammen und jder für sich reden wie die Wirklichkeit. Was sie erlebt haben, haben sie erlebt. Ihre Erzählungen sind geeignet den Begriff vom Schicksal genauer zu machen: es sind wahrhaftig Personen, die Leuten Veränderungen zufügen. Die Geschichtsschreibung wird den täglichen Tag nicht halten; dies Buch bewahrt Sekunden und Verhältnisse und Gefühle, um deren Andenken es schade wäre: es sind Erfahrungen, aus Erfahrungen kann man lernen. Sie erzählen (bis auf die Gebildeten) gut, denn in diesem Augenblick noch wollen sie zu verstehen geben wie es wirklich war für sie, und selbst der Lügner macht sich lügend deutlicher: so war es, und dann. Und dann sind sie hier. Die Fremde hilft ihnen erzählen: in der Fremde muß man genau, einfach und ohne Hoffnung reden, vielleicht versteht es doch Einer… Und einige Geschichten gelängen einem Erzähler von Beruf bloß einmal im Leben, wären sie denn erfunden. Erfunden sind die nicht. Dies alles macht mir das Buch besonders wichtig.«

Erika von Hornstein hat die Geschichten dieses Bandes von September 1959 bis Juni 1960 gesammelt und aufgezeichnet. Sie lebt heute in Berlin und am Gardasee.


Andreas Thalmayr: Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen

(H. M. Enzensberger)

Greno 1985, AB 9, 489 S.

Wenn es nach der Zahl der Produzenten ginge, wäre die Poesie ein Massenmedium. Das Verlangen, Gedichte zu schreiben, ist ungebrochen: ein heimliches Laster, das nach Öffentlichkeit giert.

Zugegeben, es ist nie ein simples, es ist schon immer ein höchst verwickeltes Spiel gewesen, das die Dichter und ihre Leser trieben. War das alles ernst gemeint? Oder war es nur eine Parade von Kunststücken, eine Vorstellung von glänzenden Tricks, sonderbaren Gemütsbewegungen, atemberaubenden Fertigkeiten? Und wenn es ein Spiel war, nach welchen Regeln wurde es gespielt? …Nur die wenigsten wüßten das zu sagen…

Wie wäre es, wenn wir von vorne anfingen? Mit einem Kompendium, aus dem zu erfahren wäre, was man mit ein paar Worten alles anfangen kann? Einem Lehrbuch der Poetik?
Das wäre vielleicht zu hoch gegriffen. Wir gäben uns schon mit einem Gedichtbuch zufrieden, das uns unterhielte, statt uns zu quälen.


Gyula Illyés: Die Puszta. Nachricht von einer verschwundenen Welt

Greno 1985, AB 10, 295 S.

Gyula Illyés (1902-1983) schildert nicht die Puszta der romantischen Opernkulisse, sondern eine Dritte Welt in Mitteleuropa, die heute verschunden ist. Ein paar Eisenbahnstunden östlich von Wien gab es bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts hinein Menschen, die wie im mittelalter lebten. Auf der Puszta existierten keine freien Bauern. Ihre Bewohner waren faktisch Leibeigene, der Willkür ihres Gutsherrn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es ist diese Puszta, die Illyés beschreibt - es ist die Welt seiner kindheit, eine Welt, die er besonders intensiv erlebt hat. Dieses Buch, von einem Mann geschrieben, der den Ungarn als einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts gilt, ist vieles zugleich - Autobiographie, poetische Reportage, politisches Pamphlet, Sozialgeschichte und ein ergreifendes memorial für die eigene Heimat und deren Bewohner.


Jules Amédée Barbey d'Aurevilly: Diabolische Geschichten

Greno 1985, AB 11, 413 S.

Jules Amédée Barbey d'Aurevilly (1808-1889) war ein gefürchteter, ungerechter, unberechenbarer Literaturkritiker, bevor er 1874 durch den Skandalerfolg seiner Diabolischen Geschichten als Schriftsteller bekannt wurde. Er präsentierte sich als Feind des Fortschritts, des Realismus, des Naturalismus, als Romantiker der Konterrevolution, als Arstokrat, Dandy, Royalist und Katholik. Aber er war ein Katholik der Ausschweifung, den die Kirche beinahe in aller Form exkommuniziert hätte und den die öffentlich bestellten Zensoren und Sittenrichter lange drangsaliert haben. Denn sein Credo lautete: »Nun aber ist die Hölle ein Himmel mit umgekehrten Vorzeichen.«

Was nun die Frauengestalten dieser Geschichten betrifft: Warum sollten sie nicht als »Teuflische« bezeichnet werden? Haben Sie nicht zur Genüge Diabolismus in sich, um dieses holden Namens wert zu sein? Teuflische! Keine Einzige ist darunter, die nicht bis zu einem gewissen Grand teuflisch wäre. Keine Einzige, zu der man mit Fug und Recht »Mein Engel!« sagen könnte...


Adolphe de Custine: Russische Schatten

Greno 1985, AB 12, 491 S.

Prophetische Briefe aus dem Jahre 1839.

So ungeschminkt hatte vorher noch keiner den Despotismus des Zaren zu schildern gewagt. So offen hatte noch keiner seine Abneigung gegen die Autokratie zu Protokoll gegeben. Westeuropa staunte, und verständige Russen nahmen voller Zerknirschung zur Kenntnis, daß es keiner ihrer Landsleute gewesen war, der dieses hellsichtige Buch geschrieben hatte.

»Das intelligenteste Buch, das je ein Ausländer über Rußland geschrieben hat« (Alexander Herzen)

»Das Buch beschrieb die Eindrücke, die der Marquis bei einem Besuch in Rußland im Sommer 1839 gewonnen hatte, und die Überlegungen, zu denen ihn diese Reise angerecht hatte. Sofort wurde es zu einem sensationellen Erfolg. Binnen weniger Jahre erlebte es mindestens sechs rechtmäßige französische Auflagen. Außerdem erschien in Brüssel ein Raubdruck, der ebenfalls mehrere Auflagen hatte. Bald folgten Übersetzungen oder gekürzte Fassungen in deutscher und englischer Sprache. Obwohl das Buch damals nicht in Russisch erschien, in Rußland vielmehr auf der Stelle verboten wurde, sickerten schon bald Exemplare der französischen Ausgabe ins Land. Die Russen lasen sie überall mit begierigem Interesse und mit Empfindungen, die von widerwilliger Zustimmung bis zu heftiger Entrüstung reichten.
…Wir stehen nämlich vor der irritierenden Tatsache, daß La Russie en 1839 ein hervorragendes, wahrscheinlich sogar das beste Buch über das Rußland unter Josef Stalins und auch kein schlechtes Buch über das Rußland unter Brežnev und Ksygin ist. Muß man dies ausführlich belegen? Wohl kaum. Fast jeder hat es bemerkt, der Rußland unter Stalin kennengelernt und dann im Lichte dieser Kenntnis La Russie en 1839 gelesen hat. Als sei das Buch gestern geschrieben…« (George F. Kennan 1971)


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© Ralf 2006