AB - Die Andere Bibliothek 1996


Wassili Rosanow: Abgefallene Blätter
Peter Fleming: Tataren-Nachrichten
Jean Paul: Ideen-Gewimmel
Margret Boveri: Tage des Überlebens
Henry Mayhew: Die Armen von London
Robert Darnton: Denkende Wollust
Ulrich Enzensberger: Georg Forster
Machado de Assis: Der geheime Grund
Hans Christian Andersen: Schräge Märchen
Richard Swartz: Room Service
Bernd Neuzner, Horst Brandstätter: Wagner. Lehrer Dichter Massenmörder
Johann Michael Sailer: Die Weisheit auf der Gasse


Wassili Rosanow: Abgefallene Blätter

Eichborn 1996, AB 133, 357 S.

Rosanows literarischer Steckbrief, verfaßt von Kollegen und Kritikern, kann sich sehen lassen: Er war "die größte Begabung in der russischen Prosa" (Berdjajew); "ein gewöhnlicher Spießer und ein von Geburt an genialer Denker" (Florenski); "widerlich wie ein Wurm" (Trotzki); "ein großer Schriftsteller, ein homerischer Schmutzfink und ein Lügner" (Struwe); "der russische Nietzsche" (Dahm); "ein Pilger, Prophet und Apostel" (Pozner); "ein Skandal im Hause der russischen Literatur" (Ivask); "die personifizierte Revolte" (Schklowski); "der objektive Kritiker, die zynische Klatschbase, der Stubenhocker, der russische Possenreißer, der Beichtende, der Mentor, der Mystiker voller Inbrunst und de Prophet des Jüngsten Gerichts" (Crone), mit einem Wort: "der größte Schriftsteller seiner Generation" (Mirski).

Und was hat er selber, dieser Dr. Jekyll und Mr. Hyde, über sein Werk zu sagen?

"Herausgerissene Schwellen. Schotter. Sand. Steine. Schlaglöcher.
- Was ist das? - eine Fahrdammreperatur?
- Nein, das sind 'Rosanows Werke'. Und übers eiserne Gleis rollt zuversichtlich die Trambahn."

Die Abgefallenen Blätter, hier zum ersten Mal in einer vollständigen deutschen Übersetzung, sind das Schnittmaterial zu einer ungeheuren Collage, glänzende, wütende, abscheuliche Splitter. Das Buch liest sich, als wäre nicht nur die Literatur - als wäre Rußland explodiert. Und doch ist diese Prosa schon vor der Katastrophe entstanden; sie wurde 1913 publiziert. Zwischen 1917 und 1989 konnte keine einzige Zeile von Rosanow in Rußland gedruckt werden. Heute wird er in Moskau und Petersburg wieder, wie zu seinen Lebzeiten, gelesen, beschimpft und verehrt.

Wassili Wassiljewitsch Rosanow wurde 1856 in der Provinz Kostroma geboren; er starb 1919 im Dreifaltigkeitskloster St. Sergius, unweit von Moskau.


Peter Fleming: Tataren-Nachrichten. Ein Spaziergang von Peking nach Kaschmir

Eichborn 1996, AB 134, 393 S.

Im Februar 1935 brach ein junger Engländer zu einer Reise auf, die ihn von Peking durch die Wüsten und Sümpfe von Sinkiang und über die verschneiten Passe des Pamir bis ins damals noch britische Kaschmir führen sollte. Begleitet von einer mutigen Frau - natürlich im strikten Zölibat - war er fast 6000 Kilometer und sieben Monate lang unterwegs, auf asthmatischen Eisenbahnen, mit Rikschas und Lastwagen, auf dem Rücken von Maultieren und tibetanischen Ponies und notfalls zu Fuß. "Wir maßen keine Schädel und lasen keine Barometerstände ab. Wir wollten herausfinden, was in Sinkiang oder Chinesisch-Turkestan vor sich ging. Acht Jahre zuvor hatte zum ersten Mal ein Reisender diese abgelegene Provinz durchquert. Inzwischen war ein Bürgerkrieg aufgeflammt und (so hofften wir jedenfalls) wieder erloschen. Niemand kam hinein. Niemand kam heraus. Im Jahre 1935 teilten sich Sinkiang und der Gipfel des Everest das Blaue Band der Unzugänglichkeit. Außerdem wollten wir reisen, weil wir glaubten, daß es uns Spaß machen würde. Wir sollten recht behalten." Es war ein exzentrisches Vergnügen. Die Reisenden begegneten Nomaden, Händlern, Räubern, Abenteurern, Generälen und Spionen. Ihre Strapazen ertrugen sie mit Humor, Understatement und der berühmten stiff upper lip.

Tataren-Nachrichten gilt in England als ein Klassiker der Reiseliteratur; das Buch hat seit 1936 über zwanzig Auflagen erlebt, und ein Ende seiner Popularität ist nicht abzusehen.

Peter Fleming, geboren 1907 in London, gestorben 1971 in Black Mount, Argyllshire, war in den dreißiger Jahren als Sonderkorrespondent der Times auf allen Kontinenten unterwegs. Sein Bruder Ian war der Erfinder von 007 James Bond.


Jean Paul: Ideen-Gewimmel

Eichborn 1996, AB 135, 303 S.

In siebenunddreißig großen Kästen liegt er da, der Nachlaß von Jean Paul: ein ungedrucktes Zettel-Meer.

1888 von der Preußischen Staatsbibliothek für tausend Taler erworben, im Zweiten Weltkrieg ausgelagert, dann verschollen, in Moskau wieder aufgetaucht, 1958 zurückgegeben, befindet er sich heute in der Obhut der Philologen, die an der großen historisch-kritischen Jean-Paul-Ausgabe arbeiten. Mit großmütiger Erlaubnis der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz und des Weimarer Böhlau-Verlages wird hier eine Auswahl aus den vierzigtausend Seiten dieses Riesenbestandes zugänglich gemacht. "Bemerkungen über uns närrische Menschen"; "Bausteine"; "Satiren und Ironien"; "Merkblätter"; "Erfindungsbücher": so sind diese Aufzeichnungen überschrieben.

Was denn nun? Alles mögliche, nur nicht ordentlich gekämmte Maximen oder Aphorismen zur Lebensweisheit - vielmehr ein blühendes Durcheinander von Ideen, Beobachtungen, Skizzen, Parabeln... Eine "Milchstraße von Einfällen", wie sie Lichtenberg, jener andere große Außenseiter, in den Sudelbüchern hinterlassen hat.

Jean Paul, vulgo Johann Paul Friedrich Richter (1763-1825), war von einer unwiderstehlichen Lust am Notieren, Aufschreiben, Kritzeln besessen. Er nennt sie seine "Dinten-Liebhaberei", und er vergleicht sein Tun mit dem Stoffwechsel von Vaucansons Ente. Die war der berühmteste Automat des achtzehnten Jahrhunderts. Der Klassiker als Gedanken-Brut-Maschine: das ist eine Idee, die allerdings eher ins einunzwanzigste zu passen scheint.


Margret Boveri: Tage des Überlebens. Berlin 1945

Eichborn 1996, AB 136, 363 S.

Vom Überleben im Untergang.

Margret Boveris Briefe aus einer belagerten Stadt erzählen von Feuerstürmen und Straßenkämpfen, von Hunger und Vergewlatigung, von Widerstand und Verblendung, von den Hoffnungen und Illusionen einer ganzen Generation. Wer sich heute - angesichts ganz anderer Kriege - in eine derart extreme Lage versetzen will, wird schwerlich ein besseres Geleit finden als bei dieser unerschrockenen Augenzeugin. Sie bringt den nchgeborenen nicht nur Horror und Verwüstung nahe; sie spricht auch von der "ungeheuren Erköhung des Lebensgefühls durch die dauernde Nähe des Todes". In der "vierten Postkarte nach der Bombe" heißt es: "Ich lebe noch, und nun erst recht."

Später, in Memoiren und historischen Untersuchungen, nimmt sich alles ganz anders aus. Die Klugheit der Nachwelt retuschiert, absichtlich oder wider Willen, jede unmittelbare Erfahrung. Nicht als wüßten die Augenzeugen ales Besser; ihr Horizont ist beschränkt, und sie können nur von dem reden, was sie gehört und gesehen, was sie am eigenen Leib erlebt haben. Authenizität ist keine Wahrheitsgarantie. "Wir lügen alle" - so hat Margret Boveri einen Bericht über ihre Arbeit am Berliner Tageblatt überschrieben. Eben dieses Problembewußtsein zeichnet sie vor anderen Tagebuch- und Briefeschreibern aus. Keine Zeile ihres Berichts hat sie hinterher geschönt. Auch der privatesten Äußerung sind Kaltblütigkeit und Scharfblick einer hochtrainierten Publizistin anzumerken. Das verleiht ihrem Buch über den Untergang des Dritten Reiches eine seltene Prägnanz.

Boveris Tage des Überlebens schließen sich einer Reihe von Zeugnissen an, die in der ANDEREN BIBLIOTHEK erschienen sind. Varnhagens Journal einer Revolution (1848/49), Alexander Herzens Briefe aus dem Westen (1847/69), den Blitzlichtern der Goncourts (1851/95), Ernst Troeltschs Spektator-Briefen über Die Fehlgeburt einer Republik (1918/22) und Friedrich Recks Tagebuch eines Verzweifelten (1936/44).

Margret Boveri ist anno 1900 in Würzburg geboren und 1975 in Berlin verstorben. Auskunft über Leben und Werk gibt der vorliegende Band.


Henry Mayhew: Die Armen von London

Eichborn 1996, AB 137, 391 S.

Vom Elend eines Imperiums

Bettler, Obdachlose, Hütchenspieler, Entwurzelte, Menschen ohne Arbeit und ohne Zukunft: im Straßenbild der Metropolen sind sie wieder aufgetaucht. Das viktorianische Elend ist der Gegenwart auf den Leib gerückt. Das verleiht dem Riesenwerk Mayhews eine unheimliche Aktualität.

Dieser Autor ist ein Pionier der Sozialreportage. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hat er sich daran gemacht, die Nachtseite Londons zu erforschen. Während die Briten das größte Weltreich der Geschichte errichteten, versank ein großer Teil der Londoner Bevölkerung in der Misere. Niemand nahm von ihren Existenzbedingungen Notiz; eine Soziologie der Armut gab es nicht.

Über ein Jahrzehnt brachte Mayhew mit seinem Ein-Mann-Unternehmen zu. Er sammelte nicht nur Daten. Er ließ sie selber zu Wort kommen, die »wandernden Stämme dieses Landes« - die Totenjäger, Taschendiebe, Prostituierten, Straßenjuden, Rattentöter, Zauberer, Pfeifer, Ngersänger und Hindu-Bettler. So wie die Afrikaforscher jener Zeit entdeckte er einen dunklen Erdteil, mitten in der Hauptstadt. In den kongenialen Holzschnitten Dorés sind seine beklemmenden Befunde zu besichtigen.

»Ich glaube«, schrieb Auden über Mayhew, »daß ich ihn an die erste Stelle setzen würde, wenn man mich nach den zehn größten Engländern der viktorianischen Zeit fragte.«

Kurt Tetzeli von Rosador hat aus dem vierbändigen, zweitausendseitigen Werk eine Auswahl getroffen und sie mit einer Arbeitsgruppe seiner Studenten übersetzt. Ein Nachwort von seiner Hand, eine Chronologie und ein Literaturverzeichnis runden die Ausgabe ab.

Henry Mayhew, 1812 in London geboren, wurde nach seiner Dienstzeit als Marinekadett in Indien Mitbegründer der Zeitschrift Punch, schrieb satirische Romane. Reisebücher und Biographien, erregte Aufsehen mit seinem Hauptwerk, geriet aber lange vor seinem Tod im Jahre 1887 wieder in Vergessenheit.

Kurt Tetzeli von Rosador lehrt Anglistik an der Universität Münster.


Robert Darnton, Jean-Charles Gervaise de Latouche, Jean Baptiste d'Argens: Denkende Wollust

Eichborn 1996, AB 138, 344 S.

Ist Sex gut fürs Denken? Ist Pornographie langweilig? Gefährlich? Harmlos? Frauenfeindlich?

Robert Darnton behauptet: »Wie die meisten verbotenen Früchte hat sie als Nahrung fürs Denken gedient. Sex ist für gewönliche Menschen vom selben Nutzen wie die Logik für die Philosophen. Nie war diese Wirkung mächtiger als im Goldenen Zeitalter der Pornographie, von 1650 bis 1800, vor allem in Frankreich.«

Seine Thesen entfaltet Darnton an Hand von zwei Klassikern des Genres: der Geschichte des Dom Bougre (1740) und der Thérèse philosophe (1748). Die Nähe der beiden Romane zur Philosophie ist auffallend. Ein Jesuit predigt der arglosen Thérèse eine radikale Version des Cartesianismus; ihre weiteren Abenteuer führen sie in die Ideen von Helvétius, Diderot und Holbach ein.

Natürlich handelt es sich dabei um Männerphantasien. Dennoch waren diese Geschichten eine Herausforderung an das Ancien régime. Im Dom Bougre wird die »Gefangenschaft« angeprangert, »in der die Frauen gehalten werden«; der Autor macht sich über die Höllenangst vor der Masturbation lustig, und im Finale der Erzählung triumphiert die Liebe sogar, ungewöhnlich genug, über Syphilis und die Kastration des Helden...

Spekulation auf die berüchtigten »niederen Instinkte«, antiklerikale Polemik, sexuelle Aufklärung und emanzipatorisches Interesse gehen in diesen Bestsellern des 18. Jahrhunderts eine schillernde Mischung ein. Dem heutigen Leser eröffnen sie den Blick in eine fremdartige und bizarre Welt. Wer will, mag sich über ihre Zweideutigkeit empören oder amüsieren; unbedeutend sind sie nicht.

Eva Moldenhauer hat die heiklen Texte mit viel Sensibilität und Bravour neu übersetzt.

Robert Darnton ist berühmt geworden durch seine Forschungen über Das Ende der Aufklärung in Frankreich, über Literaten im Untergrund und über Die Verbreitung von Diderots Enzyklopädie. Er lehrt in Princeton und in Oxford.


Ulrich Enzensberger: Georg Forster. Ein Leben in Scherben

Eichborn 1996, AB 139, 341 S.

Ein Leben zwischen Eigensinn und Unterdrückung.

Schiller schickte ihm drei Xenien nach, in die Hölle. Lichtenberg schwieg ängstlich. Goethe versuchte ein Schlußwort: »So hat der arme Forster dann doch seine Irrtümer mit dem Leben büßen müssen.«

Zwölf Jahre alt, hatte er seinen Vater, einen unzufriedenen Pastor aus dem Danziger Umland, an die Wolga begleitet, auf eine Expedition im Auftrag der Zarin. Die Belohnung blieb aus. Von Anfang an war sein Leben ein wildes Auf und Ab.

Emigration nach London, Südseereise, Bankrott. Die deutsche Ausgabe der Weltreise war eine Sensation, aber die Schulden waren gewaltig. Forster wurde Professor in Kassel. Mit den Rosenkreuzern hatte er kein Glück: aus dem Blei wollte kein Gold werden. Forster heiratete, ging nach Wilna in die »sarmatische Wildnis«, endete als Bibliothekar in Mainz. 1792 besetzten französische Truppen die Stadt. Forster setzte auf die revolutionäre Karte und organisierte, während seine Frau ihn mit einem gewissen Huber verließ, die erste deutsche Republik. Mainz ging verloren und damit seine ganze Habe.

In Paris war Forster entsetzt über den rasenden Parteigeist. Seinen immer wieder neu gefaßten Glauben an die republikanische Sache verlor er nicht. Zur dauernden Enttäuschung der deutschen Spießer starb er in der französischen Hauptstadt eines frühen, aber natürlichen Todes.

Ulrich Enzensberger bringt in seinem Buch die Quellen zum Sprechen: Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe und zum Teil recht entlegene Dokumente. Forsters Leben sperrt sich gegen jede glatte Nacherzählung. Nur die irritierende Form der Montage wird seiner ebenso unbeugsamen wie brüchigen Existenz gerecht. Forsters Ingenium und sein Unglück, Unterdrückung und Eigensinn - das ist eine Rechnung, die bis auf den heutigen Tag nicht aufgeht.

Ulrich Enzensberger, geboren 1944 in Wassertrüdingen, lebt in Berlin.
Publikationen: Georg Forster, Weltumsegler und Revolutionär Berlin 1979; Auferstanden über alles. Fünf Erhebungen. Berlin 1986


Machado de Assis: Der geheime Grund

Eichborn 1996, AB 140, 320 S.

Ein brasilianischer Klassiker.

Machado de Assis war der früh verwaiste Sohn eines Mulatten und einer aus den Azoren eingewanderten Portugiesin. Zu einer Zeit, da in Brasilien noch die Sklaverei herrschte, brachte es der Autodidakt, Stotterer und Epileptiker vom Druckerlehrling zum hohen Staatsbeamten. Neben acht Romanen hat er etwa 170 Erzählungen geschrieben, von denen hier die einundzwanzig besten vorgelegt werden.

Es sind pessimistische Geschichten, von Schwermut und von Bitterkeit getränkt; Geschichten, die vom Versagen, vom Abwegigen und von der Grausamkeit handeln. Den Brasilianern, die zum Optimismus neigen und leicht an Patentlösungen glauben, galt Machado als »ein Fremdling im eigenen Hause«.

In der Titelgeschichte nimmt er Erkenntnisse der Psychoanalyse vorweg; im »Lob des Durchschnittsmenschen« spürt er dem Abgründigen im Unscheinbaren nach; im »Irrenarzt« zeigt er, wie sich Vernunft und Wahn unentrinnbar verknäulen. Sein Humor, der nie ganz geheuer ist, mildert die Phantastik dieser Erzählung kaum. Als schonungsloser »Selbsthenker« sah Machado sich selber, wie alle anderen, von anonymen Mächten erdrückt, denen kein einzelner gewachsen ist.

Joaquim Maria Machado de Assis lebte von 1839 bis 1908 in Rio de Janeiro. Er gilt als der bedeutendste Prosaist, den Brasilien hervorgebracht hat. Neben seinen Erzählungen haben ihn vor allem Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas (1881) und der Roman Dom Casmurro (1900) berühmt gemacht.


Hans Christian Andersen: Schräge Märchen

Eichborn 1996, AB 141, 343 S.

Was wohl in diesen Märchen rumort?

Andersens Märchen gelten als biedermeierliche Kinderspeise mit einem etwas faden, sentimentalen Beigeschmack. Immer dieselben Geschichten stehen im Mittelpunkt der vielen Ausgaben, die sich in unsern Bücherschränken finden: Das häßliche junge Entlein, Die kleine Seejungfrau, Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen...

Heinrich Deterings Auswahl schlägt ganz andere Töne an. Hier finden sich anarchische, aggressive, witzige Geschichten von Rausch und Revolte, von Sexualität und Aktienhandel, von der industriellen Revolution und von einer Poetik des technischen Zeitalters.

Texte, die in keiner Märchensammlung zu finden sind, handeln von der Sündflut Nr. 2, von Opium-Ekstasen und Komischen Verliebtheiten, von der Angst der Technik-Begeisterten Im Tunnel. »Ritsch, ratsch - patsch« erzählt Andersen ein »beirn besten Willen schlechtes Märchen«. Der Tölpel-Hans bietet der Prinzessin statt Schlamm (wie in der Buchversion) wieder Kuhmist an (wie in der Handschrift). Am Schluß steht ein Verzeichnis von Märchen und Geschichten, die zu schreiben wären. Andersen hat es kurz vor seinem Tod diktiert - vom »Aal in Essig« bis zum »Weltenbaum im Bücherladen«.

Alle Texte sind neu übersetzt. Manche stammen aus anderen Büchern als aus den Märchensammlungen, andere gehen auf Versionen in den Manuskripten zurück, einige erscheinen hier überhaupt zum ersten Mal in deutscher Sprache. Für Leser, die ihren Andersen nur aus dem Kinderzimmer kennen, kommt hier ein ziemlich anderer Autor zum Vorschein. Heinrich Deterings Übersetzung hat ein Ohr für das Schräge in Andersens Stil, für seine Sprünge und Brüche und für die musikalischen Zauberformeln, mit denen er die Lust beschwört und das Entsetzen bannt.

Hans Christian Andersen lebte von 1805 bis 1875. Sein überraschendes literarisches Nachleben schildert Michael Maar in seinem Essay zu diesem Band.

Heinrich Detering lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Kiel.


Richard Swartz: Room Service. Geschichten aus Europas Nahem Osten

Eichborn 1996, AB 142, 371 S.

Ein zärtlicher Kundschafter im kalten Krieg. Schon als Student wollte er es wissen: Wie sah sie aus, jene Gegenwelt auf der anderen Seite des Vorhangs, der damals noch aus Eisen war? Richard Swartz, der Bürgersohn aus dem reichen, neutralen Schweden, begnügte sich nicht, wie seine Altersgenossen, damit, den Kommunismus im Trockenkurs der Seminare kennenzulernen. Er hielt es mit der Empirie und zog nach Prag. Seitdem hat er sich, mehr als fünfundzwanzig Jahre lang, dem »mentalen Smog« des osteuropäischen Regimes ausgesetzt und aufgeschrieben, was er dort erlebte.

Lange vor 1989 ist ihm der »Ostblock« vor den Augen zerfallen, von Fall zu Fall. Nicht auf die Manöver der Politbüros richtete er seinen zarten Röntgenblick, sondern auf alte Kellner und verlassene Bräute, auf Zigeunerkönige, jüdische Kantoren und rumänische Masseusen. Und so gelang es ihm, in der Begegnung zweier Welten jene tieferen Schichten freizulegen, von denen im Journalismus nie und in der Literatur selten die Rede ist. Ohne schmerzliche Narben ging es dabei nicht ab.

Hotelzimmer, Baracken und Kellerlöcher waren seine Herbergen. Swartz ist ein diskreter Outsider. Seinen Erzählungen fehlen die schrillen Töne der Ideologie. Sie sind intim, und doch wahren sie die Distanz zu denen, die Gefangene einer anderen, unbarmherzigeren Geschichte sind. Ihm, dem Mann aus dem silbernen Westen, begegnen seine albanischen, polnischen, tschechischen Helden mit einer Ironie, die von unten kommt; der Erzähler erwidert ihre melancholische Höflichkeit mit der Selbstironie eines Besuchers, der nie vergißt, daß er »leicht reden hat«.

Richard Swartz, der zum Understatement neigt, würde es anders ausdrücken: doch in seinem Buch ist, vielleicht zum ersten Mal, die andere, die verschwiegene, hintergründige Seite der Teilung Europas Literatur geworden.

Richard Swartz, geboren 1945 in Stockholm, lebt als Osteuropa-Korrespondent von Svenska Dagbladet in Wien und Sovinjak (Istrien). 1994 erschien das Buch Zwiesprache: Vier Tage im Jahr 1989 von Péter Nádas und Swartz bei Rowohlt. Roorn Service ist Richard Swartz' erste literarische Veröffentlichung.


Bernd Neuzner, Horst Brandstätter: Wagner. Lehrer Dichter Massenmörder

Eichborn 1996, AB 143, 311 S.

Ein deutscher Todesengel.

An einem Septembertag des Jahres 1913 ermordete der Hauptlehrer Ernst Wagner aus Degerloch seine Frau und seine vier Kinder; dann machte er sich, in der Absicht, das ganze Dorf auszurotten, nach Mühlhausen an der Enz auf, steckte mehrere Häuser in Brand und schoß scheinbar wahllos in die Menge. Es gab neun Tote und zwölf Verwundete, ehe er überwältigt werden konnte. Zuvor hatte Wagner zwei Abschiedsbriefe »An mein Volk« und »An die Lehrerschaft« verfaßt.

Wagner war kein gewöhnlicher Serienmörder. Er war ein Dichter. Seine Monumentaldramen wollte niemand aufführen. Über seine Mordpläne schrieb er: »Und ich lache dann so heil und schön, daß alle, die es hören, später sagen, es sei eines Engels Lachen gewesen.«

Wie in einem Brennspiegel sammeln sich in Wagners Schriften Motive aus dem Untergrund der »deutschen Seele«: Gewalt- und Sexualphantasien, Verfolgungs- und Größenwahn - Motive, die kurz darauf in Hitlers Buch Mein Kampf wiederkehren.

Wagner starb 1938 in der Heilanstalt Winnental, wie er selbst sagte, als der »erste Nationalsozialist« des Hauses, zwei Jahre bevor von dort aus 396 Patienten zu ihrer Ermordung nach Grafeneck und Mauthausen abtransportiert wurden.

Bernd Neuzner und Horst Brandstätter rollen in ihrem Buch den Fall Wagner anhand von Akten und psychiatrischen Gutachten, vor allem aber mit Hilfe von eigenen Äußerungen des Täters auf. Hermann Hesses Novelle Klein und Wagner aus dem Jahr 1919, inspiriert von der Figur des Massenmörders, rundet die Dokumentation dieses merkwürdigen Verbrechens ab.

Bernd Neuzner, 1949 in Bad Nauheim geboren, war an verschiedenen Kliniken für Psychotherapie, Psychiatrie und Neurologie tätig; seit 1986 hat er eine eigene Praxis als Psychoanalytiker in Düsseldorf.

Borst Brandstätter, 1950 in Stuttgart geboren, lebt als Autor und Antiquar in Öhningen am Bodensee.


Johann Michael Sailer: Die Weisheit auf der Gasse oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter

Eichborn 1996, AB 144, 359 S.

Den Deutschen aufs Maul geschaut.

In eine Andere Bibliothek gehören nicht nur verschollene Märchen und Rätsel (dafür hat Claudia Schitteks Irrgarten gesorgt), sondern auch die halbvergessenen Sprichwörter deutscher Zunge. Denn »Schriften, Schulen und Universitäten thun vieles und manchmal mit nicht kleinem Geräusch. Aber es geht, ungesehen und ungeachtet, viel Weisheit und Klugheit im Lande umher, von Mund zu Mund.« Darauf hatte es Sailer abgesehen mit seiner klassischen Sammlung. Er nennt sie »ein Lehrbuch für uns Deutsche, mitunter auch eine Ruhebank für Gelehrte, die von ihren Forschungen ausruhen möchten«.

Er kannte natürlich die Tradition, in der sein Buch steht und die sich bis zu den alttestamentarischen Sprüchen Salomonis zurückverfolgen läßt - denen er übrigens den Titel seiner Sammlung entnommen hat. Die Weisheit auf der Gasse nimmt er gegen den Dünkel der »Begriffs-Menschen« in Schutz, indem er rät: »Lege überhaupt kein Sprichwort in die logische Schraube oder dialektische Presse, sondern sieh auf den Accent der Rede.«

Seine Zeitgenossen wußten nicht recht, was sie von Johann Michael Sailer, dem Kirchenmann, halten sollten. War er ein aufgeklärter Katholik? ein Romantiker? ein Illuminat? ein Modernist? ein Mystiker? Diese Zweifel haben dem Sohn eines armen Schusters manche Scherereien eingebracht, bis er endlich im hohen Alter zum Bischof von Regensburg geweiht wurde. Er war ein Genie der Freundschaft und ging vertraut mit Leuten wie Schelling und Brentano um.

Johann Michael Sailer lebte von 1751 bis 1832. Seine Schriften wurden seinerzeit viel gelesen: Die Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind (1785), Die Glückseligkeitslehre aus Gründen der Vernunft (1781) und Die Erziehung für Erzieher (1807).


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© Ralf 2006