AB - Die Andere Bibliothek 1997


Anita Albus: Die Kunst der Künste
Rolf Vollmann: Die wunderbaren Falschmünzer
Gerhard Stadelmaier: Traumtheater
Anselm Jappe: Schade um Italien!
André Gide: Schwurgericht. Drei Bücher vom Verbrechen
Johann Fischart: Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichts­klitterung
Gabriele Goettle: Deutsche Spuren
Rudi Palla: Die Kunst, Kinder zu kneten
Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie
Peter Fleming: Die Belagerung zu Peking
Elisabeth Lenk, Katharina Kaever: Peter Kürten, genannt der Vampir zu Dussledorf


Anita Albus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei

Eichborn 1997, AB 145, 391 S.

Rückblick auf eine verschwundene Kunst.

Es war einmal eine Zeit, in der die Wissenschaft als Kunst und die Kunst als Wissenschaft galt. Im Rangstreit der Sinne triumphierte das Auge über das hörige Ohr, und die Malerei stellte sich als Kunst der Künste dar. Ziel der Maler war die Versöhnung des Sinnlichen mit dem Intelligiblen, ihr Wunsch: wie der liebe Gott im Detail zu verschwinden.

Anita Albus beschreibt die Entfaltung der augentäuschenden Malerei des 15., 16. & 17. Jahrhunderts am Beispiel weniger Werke großer und kleiner Meister diesseits der Alpen. Als Wissenschaftlerin steht sie in der Tradition Panofskys; als Malerin sieht sie Dinge, die noch niemand wahrgenommen hat; als Erzählerin weiß sie auch das Abstrakte anschaulich und spannend zu schildern. Ihre Methode setzt, wie die Schichtentechnik der alten Malerei, die Fähigkeit, verschiedene Ebenen zu unterscheiden, und die Gabe der Synthese voraus.

Der Sichtbarkeit des Unsichtbaren in der Kunst Jan van Eycks, seiner Optik, Perspektive, Maltechnik und Philosophie sind die ersten zwölf Kapitel des Buches gewidmet. Die Schilderung der Genres »Waldlandschaft«, »Stilleben« und »Waldboden« nimmt den zweiten Teil ein. Zwischen Schmetterlingen, Hummeln und Libellen tritt Vladimir Nabokov als Zeuge dafür auf, daß in der Literatur fortlebt, was in den bildenden Künsten zum Verschwinden verurteilt war. Nach einem Blick auf die Gegenwart der Vergangenheit und einigen Mutmaßungen über ihre Zukunft werden im dritten Teil die farbigen Körper der Pigmente ins Licht gerückt, die im 19. Jahrhundert der Malmittelfabrikation zum Opfer fielen.

Anita Albus lebt als Autorin und Malerin in München und in Burgund. Für die Andere Bibliothek hat sie Porträts aus dem 19. Jahrhundert von Jules und Edmond de Goncourt übersetzt (Blitzlichter. Nördlingen 1989) und Werke von Rudolf Borchardt und Claude Lévi-Strauss illustriert (Der leidenschaftliche Gärtner und Die eifersüchtige Töpferin. Nördlingen 1987). Ihre weiteren Publikationen: Der Garten der Lieder (1972); Eia popeia etcetera (1974); Das botanische Schauspiel (1987); Farfallone (1989); Liebesbande (1993).


Rolf Vollmann: Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer.

Erster Band: Das 19. Jh.; zweiter Band: 1900 bis 1950

Eichborn 1997, AB 146/147, 1082 S.

Eine Art Roman der Romane.

Romanführer gibt es genug, aber sie haben einen kleinen Nachteil: sie stehen nur zum Nachschlagen im Regal - man kann sie nämlich nicht lesen. Dagegen Rolf Vollmann! Er zählt nicht nur Autoren auf, er ist selber einer, und sein Buch ist eine große Erzählung, die davon handelt, was die großen Erzähler der letzten hundertfünfzig Jahre alles erzählt haben.

Statt eines Datenspeichers haben wir also ein Buch der Verführungen vor uns. Im Gegensatz zu den meisten Literaturhistorikern und Kompilatoren ist Vollmann selber ein leidenschaftlicher Romanliebhaber; und somit kann sich, wer sein Werk zur Hand nimmt, darauf verlassen, daß er alle Bücber, von denen er spricht, tatsächlich auch gelesen hat. Damit steht er wahrscheinlich einzig da.

Es sind gut tausend Romane aus allen europäischen und amerikanischen Literaturen und rund dreihundert Romanciers, die er uns vorstellt. Die Auswahl der Verfasser ist nicht willkürlich - Vollmann hat sich immer etwas dabei gedacht -, die Auswahl ihrer Werke dagegen ist durchaus subjektiv. Es sind Romane, die ihm gefallen haben, die er für lebendig hält und von denen er sich vorstellt, daß auch wir sie mit Lust und Liebe lesen werden.

Die beiden Bände sind chronologisch angelegt. Der erste Band ist ganz dem neunzehnten Jahrhundert gewidmet; im zweiten Band sind dann die Romane der Moderne von 1900 bis 1950 zu finden.

Mit den üblichen Schubladen gibt sich Vollmann gar nicht ab. National-Literaturen und stilgeschichtliche Einteilungen spielen für ihn keine Rolle. Er sieht die Romanzeit seit 1800 als ein einziges, grenzenloses Geniereich, in dem sich jeder, der Lust dazu hat, frei und unvoreingenommen bewegen kann.

Übrigens erzählt Vollmann nicht nur, er denkt auch nach. Kleine essayistische Abschweifungen handeln von allen möglichen Themen, die einem passionierten Leser bei seinen Streifzügen durch den Kopf gehen mögen.

Am Ende des Werkes stehen drei Register. Das erste verzeichnet in alphabetischer Folge alle Romanciers mit ihren besprochenen und erwähnten Büchern; dabei ist auch stets der Umfang vermerkt, damit der Leser weiß, was auf ihn zukommt. Ein zweites Register ordnet die Romane nach ihren Erscheinungsjahren; ein drittes stellt die Autoren in der Reihenfolge ihrer Geburtsjahre vor.

Gut die Hälfte der genannten Bücher ist in der einen oder anderen Form im deutschen Buchhandel zu haben; wenigstens ein weiteres Drittel läßt sich mit relativ wenig Mühe in Bibliotheken finden. Nur der kleine Rest ist mehr oder weniger verschollen. Vielleicht greifen sogar die Verleger eines Tages zu den Wunderbaren Falschmünzern und lassen sich dazu hinreißen, solche Bücherwünsche zu erfüllen.

Rolf Vollmann, 1934 geboren, lebt in Tübingen. Sein berühmter biographischer Essay über Jean Paul, Das Tolle neben dem Schönen, stammt aus dem Jahr 1975; er wurde 1996 bei Eichborn wiederaufgelegt; Winter-Wanderschaft, ein Buch über Nietzsche, ist 1978, Die Reise um die Welt, ein Kinderbuch, 1980, Shakespeares Arche, Ein Alphabet von Mord und Schönheit, 1988, und zwar in der Anderen Bibliothek erschienen.


Gerhard Stadelmaier: Traumtheater

Eichborn 1997, AB 148, 451 S.

Mit Theaterstücken kann man viel anstellen.

Für das Theater, das der Theaterbetrieb aus ihnen macht, sind sie nur Material. Für das Theater, durch das die Schauspielführer führen, sind sie nur Handlung. Für das Theater der Wünsche jedoch können sie zur reinen Lust werden: Man muß sie nur erzählen. Gerhard Stadelmaier baut hier sein dramatisches Wunschtheater auf. Frei schweifend wählt er Stücke aus, die seine Lieblinge sind (und die oft auf keinem deutschen Spielplan stehen). Subjektiv und phantastisch, witzig und wild fabuliert er sie nach, nicht pedantisch und chronologisch, sondem auf verblüffende Weise von einem zum anderen springend. Und es ergeben sich ganz unerwartete Wahl-, Traum- und Albtraumverwandtschaften. Da taucht Otto Ludwig neben Samuel Beckett auf, Herzmanovsky-Orlandos Baby Wallenstein reicht Schillers Fiesco brüderlich die Hand, der Datterich grüßt den Prometheus, gefesselt und Lessings Emilia Galotti führt mitten hinein in die Pension Schöller, aus der heraus John Websters Herzogin von Malfi mit den Wölfen heult. Auf diese Weise entsteht ein imaginärer Spielplan, der zeigt, daß das schönste Theater im Kopf stattfindet.

Den Lesern der Anderen Bibliothek ist Gerhard Stadelmaier wohlbekannt durch seine Letzte Vorstellung. Eine Führung durchs deutsche Theater, die 1993 erschienen ist. Er kam 1950 in Stuttgart zur Welt, lebt in Bad Nauheim. 1980 hat er sein Buch "Lessing auf der Bühne" veröffentlicht. Er ist der fürs Theater verantwortliche Redakteur und Theaterkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.


Anselm Jappe: Schade um Italien! Zweihundert Jahre Selbstkritik

Eichborn 1997, AB 149, 287 S.

Kennst du das Land... ? - Vermutlich nicht. Unser Nachbar im Süden befindet sich in einer beängstigenden Verfassung. Das wissen die Italiener selbst am besten. Die Probleme des Landes haben tiefe historische Wurzeln. Bedeutende Autoren haben immer wieder versucht, sie ans Licht zu bringen, angefangen mit Guicciardini und Leopardi, dessen hellsichtiger "Discorso sopra lo stato presente dei costumi degl'italiani" nie zuvor ins Deutsche übersetzt worden ist. Das gilt auch für die meisten anderen Texte, die Anselm Jappe hier vorlegt. Sie stammen unter anderen von Giovanni Papini, Vitaliano Brancati, Enzo Flaiano, Pier Paolo Pasolini und Alberto Arbasino.

Das sind Autoren, die sich mit dem kurzen Atem des Journalismus nicht begnügen. In vielfältigen Formen vom Essay bis zur Reportage, von der Anekdote bis zur Polemik entwickeln sie eine Selbstkritik, die aufs Ganze zielt.

Das Bild, das so entsteht, hat mit den landläufigen hämischen Klischees ebensowenig gemein wie mit den schönfärberischen Projektionen, die viele Italienreisende im Gepäck mitbringen. Vielleicht zeigt sich im Gegenteil, daß uns die schlimmen Seiten Italiens näher gerückt sind, als uns lieb sein kann, daß wir aber auch ohne die Techniken des Überlebens, in denen man im Süden so geübt ist, in Zukunft nicht auskommen werden.

Anselm Jappe trägt zu diesem Buch eine Einleitung bei, die solche Nutzanwendungen nahelegt. Der Ehrgeiz seiner Sammlung ist es, eine Art italienischer Anthropologie zu liefern.

Anselm Jappe ist 1962 in Bonn geboren, in Köln und im Périgord aufgewachsen. Er lebt seit 1983 in Rom. Er hat eine Monographie über Guy Debord veröffentlicht, die in Italien und Frankreich erschienen ist. Dann und wann kann man in der von Robert Kurz gegründeten Zeitschrift Krisis etwas von ihm lesen.


André Gide: Schwurgericht. Drei Bücher vom Verbrechen

Eichborn 1997, AB 150, 443 S.

Ein Dandy als Kriminalist.

Er ist schon 45 Jahre alt, ein Sohn aus reichem bürgerlichen Haus. Was tut er eigentlich? Er schreibt. Zu großem Ruhm hat er es nicht gebracht. Nur die Eingeweihten des Pariser Literaturbetriebs wissen, daß er hochbegabt ist, homosexuell, Ästhet und Zyniker, Hedonist und Puritaner zugleich, stets von einem skandalösen Hauch umwittert. Eines Tages im Jahr 1912 erreicht ihn ein amtliches Schreiben: er wird als Geschworener vorgeladen, ein Ehrenamt, das man nicht ausschlagen kann. Das Schwurgericht von Rouen hat mit Totschlägern, Dieben und Betrügem zu tun. Die Begegnung mit diesen Leuten schockiert den Dandy und weckt seine Neugier; die Heuchelei und die Selbstgerechtigkeit des Justizapparates empören ihn. Er schreibt einen Rechenschaftsbericht über seine Erfahrungen, halb Tagebuch, halb Reportage. Das Verbrechen fasziniert und beunruhigt ihn. Zwei seiner berühmtesten Romane handeln davon: Die Verliese des Vatikans (1914) und Die Falschmünzer (1925). Aber die Fiktion genügt ihm nicht. Er kommt auf authentische Kriminalfälle zurück, studiert die Akten und stellt eigene Nachforschungen an. Die Affäre Redureau und Die Eingeschlossene von Poitiers - das sind zwei sensationelle Verbrechen, die es ihm erlauben, in die »terra incognita« der Psyche vorzudringen. Diese Arbeiten standen lange im Schatten von Gides erzählerischem und autobiographischen Werk. Heute, da manches an seinen Selbstbespiegelungen verblichen ist, haben die großen Reportagen Gides ihre ganze Frische bewahrt.

André Gide lebte von 1869 bis 1951. 1947 wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Seine gesammelten Werke erscheinen in deutscher Sprache bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart.


Johann Fischart: Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung

Eichborn 1997, AB 151, 407 S.

Eine literarische Orgie aus Luthers Deutschland.

Das 20. Jahrhundert war stolz auf seine »innovative«, »avancierte«, »experimentelle« Moderne. Von Schwitters bis Burroughs und von Joyce bis Arno Schmidt galt die Parole: je extremer, rätselhafter, rücksichtsloser, desto besser. Aber das noch nie Dagewesene hat einen ehrwürdigen Stammbaum. Eigenbrödler, Selbstdenker, bizarre Neuerer hat es in der deutschen Literatur immer gegeben. Einer dieser Alten Wilden war Johann Fischart. Seine Geschichtklitterung ist keine Rabelais-Übersetzung, sondern ein entfesselter Karneval der Wörter. Der Text des Gargantua ertrinkt in einer chaotischen Flut von Sprachspielen und Assoziationen. Fischart selbst nannte sein Werk »ein Muster der heute verwirrten ungestalten Welt«, und Jean Paul sah darin einen »goldhaltigen Strom«. Wir Heutigen können mit glatter Stirn behaupten, daß wir hier ein Finnegans Wake aus dem 16. Jahrhundert vor uns haben. Die ganze Geschichtklitterung hätte, samt dem unentbehrlichen Kommentar, einen tausendseitigen Band ergeben. Aber muß man ein solches Meer aussaufen? Schon die Proben, die hier vorgestellt werden, machen den Leser taumeln, und nur die Sorgfalt des Philologen und die Kunst des Typographen machen diesen Riesenschmaus überhaupt genießbar. Die Glossen sind nicht in die Fußnoten oder in den Anhang verbannt, sondern kunstvoll in den Text eingefädelt, und der ganze Band wird, der Lesbarkeit zuliebe, in zwei Farben gedruckt.

Johann Fischart, genannt Mentzer, ist 1546 in Straßburg geboren; er starb um das Jahr 1590, wahrscheinlich in Forbach. Er war hochgebildet, arbeitete als Redakteur und Jurist und hat über achtzig Bücher geschrieben, unter denen die Rabelais-Bearbeitung das aberwitzigste und amüsanteste ist.


Gabriele Goettle: Deutsche Spuren. Erkenntnisse aus Ost und West

Eichborn 1997, AB 152, 363 S.

Sie zweifelt daran, daß es an der Zeit ist, aufzuhören. Deshalb läßt Gabriele Goettle den Deutschen Sitten von 1991 und den Deutschen Bräuchen von 1994 einen dritten Band folgen. Ihre Neugier gibt keine Ruhe, ihr Material ist unerschöpflich, ihre Methode ohne Vorbild: »Dieses Hineintappen - blindlings geradezu - in Situationen, die dann zu Geschichten werden und unerwartete Wendungen nehmen, das ist wunderbar. Wie in der Komödie oder im Märchen tauchen immer wieder die bekannten Figuren auf, und jedesmal zeigt sich das Thema, die Tragikomödie der deutschen Geschichte, von einer anderen Seite.«

Die Ergebnisse lassen sich nicht auf eine Formel bringen. Warum baut ein bayerischer Kapitalist den Berg ab, in dem einst die Zwangsarbeiter aus dem KZ die »Wunderwaffe« V2 bauten? Wie geht es auf einem Treffen christlicher Motorradfahrer im Wilden Osten zu? Worüber unterhält man sich bei einer Porno-Messe im ehemaligen Stasi-Hauptquartier? Geht der deutsche Gartenzwerg tatsächlich auf ein Arbeiter-Denkmal zurück? Wie hat eine Frau in Männerkleidung den Ersten Weltkrieg bei der Reichswehr, das Dritte Reich als Metallarbeiter und die DDR in einem Stahlwerk überlebt? Wie wird ein Glasauge geblasen? Was hat ein Pilzfreund mit dem Uranabbau der Wismut-AG zu tun? Wie hängt die Erfindung der Gummipuppe mit dem Elend der Heimarbeiter zusammen? Fragen, auf die kein gewöhnlicher Reporter gekommen wäre. Die Antworten, die Gabriele Goettle einsammelt, sind weniger abwegig als man glauben möchte: sie geben ganz präzise Auskunft über den Widersinn, die Komik und die Unheimlichkeit der Normalität.

Gabriele Goettle, geboren 1946 in Aschaffenburg, lebt in Berlin und arbeitet als Journalistin vor allem für die tageszeitung, in der ihre Reportagen größtenteils abgedruckt worden sind. Außer den beiden Bänden in der Anderen Bibliothek hat sie 1991 einen Essayband. unter dem Titel Freibank veröffentlicht.


Rudi Palla: Die Kunst, Kinder zu kneten. Ein Rezeptbuch der Pädagogik!

Eichborn 1997, AB 153, 359 S.

Dieses Buch widmet sich den hundertfältigen Versuchen der Menschheit, ihre Nachkommenschaft zu erziehen. Was dabei zum Vorschein kommt, ist ein krasses Durcheinander von Rezepten und Methoden, die ebenso selbstgewiß wie hilflos zwischen Wohlwollen und Brutalität hin- und herpendeln. Rudi Palla beschränkt sich dabei nicht auf die Geschichte der europäischen Pädagogik. Er greift auch auf exotische Quellen und auf Ergebnisse der ethnologischen Feldforschung zurück. Aufklärer und Eskimos, Nazis und Polynesier, Zwangsneurotiker und Menschenfreunde - alle haben sich an einer Aufgabe versucht, für die es offenbar keine schlichte Lösung gibt. »Das Kind als Feind«; »Schule der Barbaren«; »Wiedergeburt im Busch«; »Kinder im gefrorenen Land«; »Zwischen Angst und Liebe« - schon die Kapitelüberschriften zeigen, wie sonderbar es dabei zugeht. Nicht ohne Komik, nicht ohne Grauen, nicht ohne Grazie werden so die vielfältigen Minenfelder überquert. Eltern und Erzieher werden in diesem Buch mit Gewinn und mit Entrüstung lesen.

Palla ist 1941 in Wien geboren und arbeitet als Autor in seiner Heimatstadt. 1989 hat er sein erstes Buch veröffentlicht: Die Mitte der Welt. Bilder und Geschichten von Menschen auf dem Land.


Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie

Eichborn 1997, AB 154, 535 S.

Neues vom Ältesten.

Ein solches Buch hat es noch nie gegeben. Daß die Poesie eine alte Erfindung ist, ahnen wir; aber die wenigsten von uns wären imstande, die Spur der europäischen Dichtung bis an ihre Ursprünge zurückzuverfolgen. Sie führt weit, bis ins Zweistromland, bis zu den Arabern, den Kelten und den Sizilianern. Wer wüßte schon, daß der älteste überlieferte Dichtername einer Frau gehört? Wer kennt noch die wilden Lieder des Archilochos, den die Griechen die Skorpionzunge nannten? Und so weiter - über Sappho und die römischen Elegiker Catull und Properz bis zu den Iren des achten, den Hebräern des elften, den Trobadors des zwölften und den Walisern des vierzehnten Jahrhunderts.

Make it new: das war die Losung, mit der einst, in den Zeiten der heroischen Moderne, Ezra Pound angetreten ist. Damals galt das Neue nicht als eine Domäne von Trendsettern und Trampeln; damals wußten die Dichter noch, daß das Neueste nur aus einem langen Gedächtnis kommen kann. Die Klügeren unter den Heutigen sind der Idiotie der Gleichzeitigkeit müde geworden. Raoul Schrott ist einer von ihnen. Auf eigene Faust hat er eine Entdeckungsreise ersten Ranges unternommen. Viele Dichter werden hier zum ersten Mal auf deutsch vorgestellt. Andere werden aus dem akademischen Brutkasten befreit. Jedes Kapitel bietet außerdem einen einleitenden Essay, eine Probe in den Originalsprachen, ein Glossar und einen Quellenhinweis. Die tausendjährigen Gedichte erscheinen in Schrotts Versionen frisch wie am ersten Tag. Der Staub ist weg. Es ist Zeit für überraschende Entdeckungen.

Raoul Schrott ist 1964 in Landeck geboren. Seine bisherigen Publikationen sind: Dada 21/22 (1988); Makama (1989); Die Legenden vom Tod (1990); Rime (1991); Dada 15/25 (1992); Sub rosa (1993); Hotels (1995); Finis terrae (1995), Die Musen. Fragmente einer Sprache der Dichtung (1997) und Poesie und Physis - Grazer Poetikvorlesungen (1997).


Peter Fleming: Die Belagerung zu Peking. Zur Geschichte des Boxer-Aufstandes

Eichborn 1997, AB 155, 371 S.

Die »Boxer« und die »Hunnen«.

Hundert Jahre ist es her, und schon fast vergessen: Das große China lag fest im Griff der »weißen Teufel«. Im Gesandtschaftsviertel feierte man den 81. und letzten Geburtstag von Queen Victoria; es gab Picknicks und Pferderennen. Niemand ahnte, daß ein paar Wochen später der Geheimbund der »Boxer« Peking stürmen und die Ausländer zu Geiseln nehmen würde - ein Übergriff mit weitreichenden Folgen.

Fünfundfünfzig Tage dauerte die Belagerung der Gesandtschaften. Dann zog ein internationales Expeditionskorps plündernd und raubend durch das Land und brachte Entsatz. Die Chinesen erlitten eine demütigende Niederlage. Es sollte noch ein halbes Jahrhundert dauern, bis das Land seine Fesseln abgeschüttelt hatte.

Zu den Okkupanten gehörten auch die Deutschen. Sie hatten sich 1898 in Jiaozbou (Kiautschau) eingenistet, und sie spielten auch bei der Niederschlagung des Aufstands eine Rolle.

Daß die Briten uns heute noch, wenn sie unter sich sind, mit Vorliebe »die Hunnen« nennen, ist keinem andem als unserm Kaiser Wilhelm zu verdanken. »Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht«, sagte er in Bremerhaven bei der Verabschiedung der deutschen Truppen: »Wie vor tausend Jahren die Hunnen sich einen Namen gemacht haben, so möge der Name Deutscher auf eintausend Jahre durch euch in der Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.«

Peter Flemings spannender Bericht über das Drama von Peking erinnert an die Vorgeschichte eines alten Kulturkonfliktes, der seine Schatten bis ins kommende Jahrhundert wirft.

Peter Fleming, 1907 in London geboren, starb 1971 in Argyllshire. Er war Auslandskorrespondent, Abenteurer, Historiker, Offizier und Reiseschriftsteller.


Elisabeth Lenk, Katharina Kaever: Peter Kürten, genannt der Vampir von Düsseldorf

Eichborn 1997, AB 156, 347 S.

Lauschangriff auf einen Mörder.

»Ein Massenmörder spielt mit einer Stadt. Düsseldorf fiebert! Das Rheinland zittert!« Das waren die Schlagzeilen in der gewittrigen Schwüle des Jahres 1929, im Endstadium der Weimarer Republik.

Wie erregt die Stimmung war, geht daraus hervor, daß bei der Polizei nicht weniger als 12.000 Hinweise aus der Bevölkerung eingingen; zweihundert Personen stellten sich freiwillig und gaben sich für den Mörder aus. Als im Mai 1930, mitten in der Wirtschaftskrise, Peter Kürten endlich verhaftet wurde, kam es zu einem der sensationellsten Prozesse der deutschen Kriminalgeschichte. Ein Jahr später wurde Kürten enthauptet. Er hatte einen Mann, vier Frauen und vier Kinder umgebracht.

Anhand der Aktenbestände des Düsseldorfer Hauptstaatsarchivs und aus anderen Quellen haben Elisabeth Lenk und Katharina Kaever diesen Fall minutiös dokumentiert, angefangen mit der Kampagne der Medien, über Fahndung, Ergreifung und Geständnis bis zum Prozeß und zur Hinrichtung. Denkwürdig sind aber vor allem Kürtens Selbstdarstellung und die Versuche der Gutachter, sein Verhalten aufzuklären. Über die Grenze, an die sie dabei stießen, sagen die Autorinnen: »Das Rasen des Einen gegen Alle wird keine Gesellschaft dulden und kein System aufheben. Kürten war ein solcher Einzelner.« Dem ist heute, sechzig Jahre später, angesichts der täglichen Berichte über Serienmörder, nichts hinzuzufügen.

Elisabeth Lenk lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Hannover. Ihre wichtigsten Publikationen sind Der springende Narziß (1971); Die unbewußte Gesellschaft (1983); Kritische Phantasie. Gesammelte Essays (1986).

Katharina Kaever lebt in München. Sie hat 1985 ein Buch über Die Nachtwachen der Djuna Barnes und 1993 die Anthologie Abschied vom 20. Jahrhundert veröffentlicht.


←   AB - 1996 AB - 1998   →

© Ralf 2006