Joan Didion: Das Jahr magischen Denkens

Claassen, 2006, 252 S.
(OT The Year of Magical Thinking, 2005)
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel


Quintana, John und Joan, Malibu 1976

Ein Todesfall - bei den einen kommt er möglicherweise durch lange Krankheit ganz langsam, die Menschen können sich ganz früh schon damit auseinander setzen; bei den anderen kommt er völlig überraschend, ganz unvermittelt sieht man sich mit dem Tod konfrontiert. Der Verlust eines geliebten Menschen ist etwas, worauf wir normalerweise nicht vorbereitet sind, wenn das überhaupt möglich ist; auch die zugehörigen Handlungsrituale, die evt. über die erste Zeit hinweghelfen können, sind in unserer Gesellschaft vielen fremd.

»Das Leben ändert sich schnell. Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf

Am Abend des 30. Dezember 2003 erleidet der Schriftsteller John Gregory Dunne, der Mann von Joan Didion, am gedeckten Tisch einen Herzanfall. Das Ehepaar kam gerade aus dem Krankenhaus zurück, wo die Tochter Quintana auf der Intensivstation liegt. Der Notarzt kommt, nach einigen Wiederbelebungsversuchen in der Notaufnahme wird der Tod festgestellt.

»Information ist Kontrolle

Joan Didion hat ein halbes Jahr später begonnen, dieses Buch zu schreiben, in dem sie immer wieder neu versucht, das Ereignis zu rekonstruieren, über ihre Erinnerungen, ihre Gefühle. Das Jahr nach dem Tod ihres Mannes wird für sie zum »Jahr magischen Denkens«. Auch wenn sie rational weiß, daß John tot ist, kann eine andere Seite in ihrem Innern es dennoch nicht akzeptieren. Und immer wieder wird aufs neue das Ereignis in Gedanken durchgespielt, die Chronologie geordnet, über Schuld und Versagen nachgedacht: hätte ich etwas tun können, habe ich etwas übersehen, falsch gemacht, was ist schiefgelaufen? Sie liest viele Bücher über Sterben, Trauer, Tod: die Intellektuelle versucht, die eigenen Gefühle, die Trauer über den Verstand zu kontrollieren. Im Nachdenken, und Schreiben wird ihr nur langsam bewußt, daß der Verlust endgültig ist, der Tod unabwendbar ist und war.

Doch Trauerarbeit ist auch Gefühlsarbeit, die Seele ist berührt und so wird auch Joan Didion immer wieder in einen Strudel gerissen, was sie durch Vermeidungsstrategieen zu mindern sucht. Das Ehepaar war 40 Jahre miteinander verheiratet und es gab kaum Zeiten der Trennung voneinander. Beide Schriftsteller hatten zu Hause gearbeitet, die meisten Gedanken waren an den anderen adressiert. Was, wenn das wegbricht? Vieles ist plötzlich halbiert, man kann seine Welt nicht mehr mit dem anderen teilen. Darüber schreibt sie im ersten Teil des Buches. Im zweiten Teil dreht sich viel um ihre Tochter, die im Krankenhaus liegt, mit der es immer wieder auf und dann wieder abwärts geht. Und es ist natürlich ein Buch über ihre Ehe, über Liebe; immer wieder reflektiert sie die gemeinsame Vergangenheit, Orte, wo sie gelebt haben, gemeinsame Vorlieben.

Auch wenn sie immer wieder über ihre Gefühle, ihre Seele, ihre Verletzlichkeiten spricht, so ist doch kein rührseliges oder sentimentales Buch daraus geworden. Das Buch hat mich emotional wenig berührt, auch wenn im Geschilderten viel Schmerz enthalten ist. Das liegt wohl überwiegend daran, daß Joan Didion eher distanziert schreibt, an alles mit analytischem Blick herangeht und Leidgefühle, Verlust, ihre Trauer zu kontrollieren sucht. Sie schreibt zwar über physisches und psychisches Leid, Schmerzen, Sehnsucht - und doch bleibt alles kontrolliert, oft der Analyse unterworfen.

Es war ein schweres Jahr für Joan Didion, ein Jahr der Trauer, zur Trauerarbeit hin. Vor allem hat dann noch ein »zweites Jahr magischen Denkens« begonnen. Der Gesundheitszustand ihrer Tochter hat sich wieder verschlechtert und sie starb fünf Wochen nach Erscheinen des Buches.

»Ich weiß, warum wir versuchen, die Toten am Leben zu halten: Wir versuchen, sie am Leben zu halten, um sie bei uns zu behalten. Ich weiß auch, daß, wenn wir selbst leben wollen, irgendwann der Punkt kommt, an dem wir die Toten auslöschen müssen, sie gehen lassen, sie tot sein lassen müssen. Sie zum Foto auf dem Tisch werden lassen.«

© Ralf 2007