Sarah Hall: Der Elektrische Michelangelo

Liebeskind 2005, 415 S.
OT The Electric Michelangelo, 2004
Aus dem Englischen von Peter Torberg

In diesem Roman beschreibt Sarah Hall die Lebensgeschichte von Cyril Parks. Cy wächst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im nordenglischen Küstenort Morecamb auf, einem kleinen Urlaubsort der eher ärmeren Briten. Die Mutter betreibt dort mit geringen Mitteln ein Hotel, das in den Wintermonaten eher von Schwindsüchtigen besucht wird als von Urlaubsgästen. Nebenbei führt sie heimlich auch Abtreibungen durch, was der kleine Cy allerdings noch nicht durchschauen kann: er sieht aber "im Dunkeln" Frauen kommen und gehen. Auf der Promenade des Seebads und im Vergnügungspark sieht er einerseits Artisten, skurile Gestalten und was es da sonst noch gibt, andereseits entwickelt er aber auch einen Blick für den langsamen Niedergang des Seebads und die Abgründe, die sich in den Menschen verbergen.

1921 geht er in die Lehre bei Eliot Riley, der zum rohen Alkoholiker geworden ist, dem die Faust locker sitzt, der die Welt verachtet und sich im Grunde selbst zerstört, aber auch ein faszinierender Tätowierer geworden ist und deshalb großen Einfluß auf Cy hat.

Diese Jahre werden für Cy recht hart, da er sich immer wieder um Riley kümmert, wenn er irgendwo in der Stadt betrunken liegt, sich geprügelt hat oder sich völlig hängen läßt. Trotzdem entwickelt er die Fähigkeit, den wahren Kern unter der manchmal rauhen Schale der Menschen zu entdecken und diesen in Bilder umzusetzten. Er hat begriffen, was Tätowieren heißen kann, dies ist ein zentrales Thema des Buches. Die Lehrzeit bei Eliot Riley prägen Cyril Parks viele Jahre und tragen den Rroman weit über den ersten Teil hinaus, das war schön zu lesen.

Nach dem qualvollen Tod seines Lehrmeisters verläßt er England und schifft sich nach Amerika ein. In New York angekommen, mietet er sich auf Coney Island, wie Morecomb nur ist alles viel größer, verrückter und bizarrer, sein eigenes Tätowierstudio. Auf Coney Island suchen die Schaulustigen zwischen Freakshows und Achterbahnen nach dem ultimativen Kick, alles wird wiederholt in vielen Bildern geschildert und trotzdem fehlt diesem Teil die Dynamik und der prägende Charakter: es ist leider der schwächste Teil.

Dann tritt im Frühling 1940 Grace auf, für Cy eine fesselnde Frau, die ihm rätselhaft erschien und ihn immer mehr gefangen nimmt. Für den Leser kommt nun endlich wieder Schwung in die Geschichte, im Leben von Cyril Parks scheinen die Schatten Rileys zu verschwinden und man verfolgt gebannt seine Faszination für Grace. Sie möchte sich am ganzen Körper tätowieren lassen und Cy beginnt seinen Beruf vollständig zu erfassen, für ihn der Höhepunkt seiner Kunst. Tätowieren hieß zu verstehen, daß die Menschen in all ihrer verwirrenden Rätselhaftigkeit nur danach trachteten, ihre Körper zurückzugewinnen. Es hieß zu verstehen, daß der Körper erst zerstört und befreit werden mußte, um wiedergeboren zu werden.

Ein Buch rund ums Tätowieren also, aber auch über Menschen am Rande der Gesellschaft und den Blick hinter ihre Fassaden; allerdings hat mich die Wendung, die schließlich die Geschichte um Grace am Ende nimmt, dann nicht unbedingt begeistert...

16.05.2006

© Ralf 2006