Reinhard Jirgl: Abtrünnig

Hanser 2005, 544 S.

Selten hat mich ein Buch so beschäftigt. Noch ein oder zwei Wochen lang ging es mir durch den Kopf, suche nach Antworten - vor allem warum beschäftigt es mich.

Zwei Männer, der eine ein Grenzbeamter aus dem Osten, der andere ein Journalist aus Hamburg, verschlägt es in das heutige Berlin, wobei dem Journalisten deutlich mehr Raum eingeräumt wird. Deshalb bekommt man auch viel zu lesen aus dem Journalisten-Gewerbe, Milieuschilderungen aus der Berliner Zeitungs- und Kulturszene. Daß beide auch mit einer Frauengeschichte zu kämpfen haben, jeder auf seine Art, ist nur Handlung am Rande. Für mich ist es ein sehr politischer Roman, immer wieder wird er Lesefluß unterbrochen durch Zitate oder fast schon Abhandlungen, sei es durch Friedrich Nitzsche oder Michel Foucault. Das Buch ist voll von Gesellschafts-, Kapitalismuskritik und es ist kraftvoll geschrieben, oft wütend. Korruption der Gesellschaft, Kampf der Klassen gegeneinander und das Überleben in der Großstadt.

Allerdings haben mich manchmal die vielen Einschübe gestört, die mich nicht immer interessiert haben und den Lesefluß hindern. Gewöhnunsbedürftig auch die eigenwillige Orthographie. Nach 100 oder 200 Seiten jedoch hatte ich mich so daran gewöhnt, daß daraus ein eigener Reiz geworden ist. Und neue Bedeutungen. Worte, die man sonst gedankenlos im Fluß lesen würde, bekommen vielfältige Bedeutungen und ich bin oft hängen geblieben um neuen Gedanken Raum zu geben oder zu staunen: ein Beispiel aus der ZEIT: ...die Schreibweise jedes Wortes neu verhandelt wird (daraus entstehen erhellende Bedeutungsverschiebungen wie beim »Schurnalisten-Hohn-oh-rar«)...

Der Titel paßt finde ich auch: "Abtrünnig - Roman aus der nervösen Zeit". Beim Lesen geht der Blick tatsächlich oft in den Abgrund, nervös? na klar.

Bei den Wortspielereien war es unterschiedlich. Der Leseeinstieg ist bestimmt etwas mühselig und anstrengend bei diesem Buch, aber irgendwann habe ich es kaum noch gemerkt, am Ende gar manchmal vermißt. Manchmal mußte ich lachen, mal stolpern, immer wieder nachdenken (da ein "Subtext" aus den Worten entsteht mit ganz neuen Bedeutungen) oder, wenn es mir zuviel war, habe ich es eben ignoriert. Man müßte jetzt endlos zitieren um zu zeigen, wie Jirgl schreibt. Ich kann nur empfehlen, in einer Buchhandlung mal reinzulesen.

Ich wollte nicht kämpfen, also einfach ausprobieren ob man sich einlassen kann, es gehört für mich zu den bemerkenswerten Büchern.

20.11.2005


© Ralf 2006