Angelika Klüssendorf: Das Mädchen

Kiepenheuer & Witsch 2011, 183 S.

Der Titel paßt sehr gut, das Buch begleitet und beschreibt die Entwicklung eines 12-jährigen Mädchens bis etwa zum Ende der Schulzeit. Wie in anderen Erzählungen von Angelika Klüssendorf auch, lebt das Mädchen in verwahrlosten Familienverhältnissen, Betreuung, Förderung oder verläßliche Zuwendung kennt sie nicht. Und damit setzt das Buch auch ein »Das Mädchen ist zwölf Jahre alt, ihr Bruder Alex sechs, seit Tagen sind sie in der Wohnung eingeschlossen.« Der Mutter ist das ziemlich gleichgültig, die Kinder sind sich selbst überlassen, sie kennen es nicht anders. Immerhin entkommen sie so der Gewalt der Mutter, deren Zustände immer mal wieder wechseln von depressiver Zurückgezogenheit zu sadistischer Gewalt. Die Mutter kann tagelang im Bett liegen, und irgendwann »dann ist von einem Tag auf den anderen wieder alles beim Alten, mit einem eisigen Hauch öffnet sich die Schlafzimmertür, und die Mutter inspiziert mit wütender Kraft die Wohnung, reißt die Fenster auf, erteilt Befehle«, Interesse scheint die Mutter ihren Kindern keins entgegen zu bringen. In seltenen Fällen findet das Mädchen außerhalb der "Familie" Erwachsene, z.B. eine Blinde, die sich für sie interessiert, der gegenüber gaukelt sie dann gute Verhältnisse vor, erfindet »eine besorgter, liebende Mutter«. Doch »zu Hause erwartet sie eine Abreibung, eine, die sich gewaschen hat, denn ihre Mutter ist vor schlechter Laune außer sich. Sie erzählt ihr von der blinden Frau. Das interessiert mich einen Scheißdreck, schreit die Mutter, du mit deinen Lügen, und dann verteilt sie ihre Schläge wütend und unkontrolliert. Es macht keinen Unterschied, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt, denn die Mutter ist sowiso entschlossen, die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln. Doch sie beharrt auf ihrer Unschuld, kann sich nicht vorstellen, etwas angestellt zu haben, was solchen Zorn hervorruft...«

Die Mutter bringt wechselnde Männer mit nach Hause, darunter auch einmal ihren Vater, um es noch einmal miteinander zu probieren. Doch der schlägt seine Frau, »der Vater kniet über ihr und würgt sie, würgt die Mutter so sehr, bis ihre Augen hervortreten«. Sie hat diese Prügeleien schon oft erlebt, dies wird für sie zur Normalität, auch, es am eigenen Körper zu spüren. Der Vater schlägt die Mutter, diese die Tochter, und die dann schlägt ihren kleinen Bruder. Den Vater sieht sie selten nüchtern, sie taugt nur dazu losgeschickt zu werden, um einige Flaschen Bier zu kaufen, für Nachschub zu sorgen. Die Kinder werden auch für sadistische Ablenkungen mißbraucht, »Betrunken findet die Mutter zu ihren alten Zerstreuungen zurück; Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, läßt er die Arme sinken, knallt die Mutter ihm den Ledergürtel zwischen die Beine.«

Das Mädchen flüchtet immer wieder aus der elterlichen Wohnung, beginnt zu stehlen, wird aufgegriffen. Bis zum Ende der Schulzeit lebt sie in einem Kinderheim, was einerseits das Problem der Gewalt von ihr nimmt, eine scheinbare Verbesserung, aber wohl fühlt sie sich auch nicht. Die anderen Kinder hänseln sie, die Blicke der anderen Mädchen auf sie sind unerbittlich und nicht zimperlich. »Gerippe ist einer ihrer Spitznamen, ansonsten wird sie noch Speiche oder Hungerhaken gerufen.« Auch wenn sie viel ißt, »zu ihrem Leidwesen nimmt sie kein Gramm zu, schon gar nicht an den richtigen Stellen, sie kommt sich wie eine Stabheuschrecke vor oder ein Stelzvogel; lange, schlaksige Gliedmaßen, zwei Brustwarzen, der Bauch leicht geschwollen und ein nackter Hamster zwischen den Beinen.«

In der Schule könnte sie ganz gut sein, doch selbstständiges Denken wird in der DDR nicht gerade gefördert oder goutiert. »Im Staatsbürgerkundeunterricht beginnt sie Fragen zu stellen. Warum muss sie auf einem ihr zugewiesenen Territorium leben und darf es nicht verlassen? Was hat sie verbrochen, dass sie nie den Rest der Welt sehen darf? Und warum bringen ihr diese Fragen einen Tadel ein? Die Fragen sind doch in ihrem Kopf und verschwinden nicht einfach, bloß weil sie nicht ausgesprochen werden dürfen«. Wenn es nach den Schultexten ginge, »wäre sie längst Sozialistin geworden... Es ist einfach, in den Liedern und Gedichten gerecht und ungerecht zu unterscheiden, doch im alltäglichen Leben sieht es anders aus.« Aber sie behält ihr Interesse, das findet andere Wege, nur eben nicht in der Schule »ein kleiner Dämon in ihr scheint verhindern zu wollen, dass sie sich in der Schule anstrengt. Ihre Konzentration reicht nur für Bücher. Mit einer Begeisterung, die sie sonst für nichts anderes aufbringt, liest sie Hemingway, Zola und Balzac. Sie ist erschüttert von den Geschichten, liebt ihre Romanfiguren voller Zärtlichkeit.«

Immerhin schafft sie den Schulabschluß, gerade so. Sie wird eine Lehre als Rinderzüchterin beginnen, Berufsbezeichnung Zootechniker/Mechanisator. Rinderzüchter wird nur, wer nichts Besseres bekommen hat, landet dann eben als Melkerin in einer LPG...

Angelika Klüssendorf schreibt in einer nüchternen, knappen Sprache. Das mag dem Text angemesse sein, für mich war es vor allem zum Einstieg in das Buch etwas unbefriedigend, da ich das angemessen für eine Erzählung fand, mir aber für einen Roman etwas anderes gewünscht hätte. Aber vielleicht wirkt das hier besonders gut, da die nüchterne Beiläufigkeit, mit der Gewalt geschildert wird, dann erschütternder auf den Leser wirkt. Man kennt es eher aus dem Westen, aber auch in der DDR gab es soziale Schieflagen, eine Unterschicht, kaputte Familien, in denen Alkohol, Armut oder Gewalt eine andere sozialistische Realität bilden, sowieso. Doch das nur am Rande, das ist nicht Thema des Buches. Es wird einfach und folgerichtig die Abwärtsbewegung eines Mädchens erzählt, als Kind, durch die Pubertät, Anstrengungen und Strategien, das zu durchbrechen, selten Wünsche und Sehnsüchte, woher auch.

Wie erträgt man eine solche Kindheit? Eine Möglichkeit ist Flucht nach innen, Isolation, Verschließen oder gar Nichtwahrnehmen von Gefühlen. Deshalb muß ich das eben Gesagte vielleicht korrigieren. Es geht ja nicht abwärts, sondern von der Mutter ins Heim ja fast »aufwärts«, und wenn man die Umstände und die Vergangenheit des Mädchens berücksichtigt, dann hätte der Schaden größer sein können: sie startet doch recht »gesund« nach der Schule ins Leben. Nicht der beste Beruf, aber psychisch könnte es schlimmer sein und sehr unglücklich scheint sie auch nicht...

Bücher von Angelika Klüssendorf zu lesen bedeutet oft auch, Leben in schwierigem sozialen Milieu kennenzulernen, mit Gewalt, oft auch bei Kindern. Man sollte auch davor nicht die Augen verschließen, sich auch damit auseinander setzen.


© Ralf 2011