Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg

Suhrkamp 2011, 219 S.

Blumenberg hatte gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um sie in das Aufnahmegerät zu stecken, da blickte er von seinem Schreibtisch auf und sah ihn. Groß, gelb, atmend; unzweifelhaft ein Löwe. Der Löwe sah zu ihm her, ruhig sah er zu ihm her aus dem Liegen, denn der Löwe lag auf dem Bucharateppich, in geringem Abstand zur Wand.

Damit beginnt der Roman von Sibylle Lewitscharoffs »Blumenberg«. Blumenberg, damit ist Hans Blumenberg (1920-1996) gemeint, ein bedeutender deutscher Philosoph, der seit 1970 an der Universität in Münster gelehrt hat. Diesem Philosophen einen Löwen vor den Schreibtisch zu legen, paßt sehr gut zu Blumenbergs Werk und seinem Denken. Er ist katholisch getaufter »Halbjude« und kennt sich in christlichen und jüdischen Glaubensfragen ausgezeichnet aus. Darüber hinaus veröffentlichte er Werke mit Titeln wie »Arbeit am Mythos«, »Wirklichkeiten, in denen wir leben« oder »Höhlenausgänge«. Diese Titel, »Absolutismus der Wirklichkeit«, Stichworte, an die man sich im Roman erinnert fühlt, sie in irgendeiner Form wiederfindet. Auch mit dem Bild des Löwen hat er sich häufig beschäftigt, so daß sogar ein Buch mit diesem Titel erscheinen konnte. Der Löwe ist ein häufig gesehener Begleiter von Heiligen und wurde diesen oft beigegeben. Nun ist Blumenberg natürlich kein Heiliger, aber eine Geistesgröße in der Philosophie, zu seiner Zeit eine Koryphäe. Was im Buch passiert findet man bildlich vielfach dargestellt (z.B. auf einem von Blumenbergs Lieblingsbildern von Antonello da Messina), ich finde aber auch sehr passend in einem Stich von Albrecht Dürer (1515) »Der heilige Hieronymus im Gehäus«: so könnte man sich das in Blumenbergs Büro vorstellen.

»Natürlich war das Auftauchen des Löwen ein Wunder. Blumenberg lag es fern, Wunder zu belächeln, sich über sie lustig zu machen; im Gegenteil, die Zeige- und Bestätigungskraft der Wunder, die sich zur Zeit der Abfassung der beiden Testamente ereignet hatten und auch noch in der Zeit des Urchristentums, beeindruckten ihn in ihrer Intensität und Verweiskraft, auch wenn er sich nicht dazu bringen konnte, an sie zu glauben. Aber der Löwe verkörperte das Wunder.«

Ist es nun eine Halluzination, die er erleidet, eine Täuschung, ist er krank oder ging er in eine psychologische Falle? Oder ist es ein Wunder? Es ist schon amüsant, daß Sibylle Lewitscharoff dem Agnostiker Blumenberg einen Löwen auf den Teppich legt. Nicht umsonst ist er Philosoph, er nimmt ihn an »Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin, der ihn zu würdigen versteht«. Später hat er eine Vorlesung zu halten zum Thema »Trostbedürfnis und Untröstlichkeit des Menschen«. Diese Vorlesung ist wunderbar beschrieben, auch hier tritt der Löwe auf, er trottet zwischen den Reihen die Stufen des Hörsaals herab. Blumenberg sieht ihn als einziger, die Studenten sehen den Löwen nicht. Auch sonst kann niemand den Löwen sehen, doch letztliche Gewissheit über seine Existenz erhält auch der Leser spätestens bei einer Begegnung Blumenbergs mit der Nonne Käthe Mehliss, älter als er und im Buch der einzige Mensch, vor dem er Respekt hat. Auch sie sieht den Löwen ganz selbstverständlich.

Die Löwenkapitel, die Welt des Philosophen, sind die schönsten Kapitel des Buches. Man wird in dieser Welt auch nicht gestört von anderem Personal, denn Blumenberg war Nachtarbeiter, bis tief in die Nacht saß er an seinem Schreibtisch und hatte seine Ruhe. Aber er zog sich auch bewußt zurück, hatte die Öffentlichkeit eher gescheut. So ist es keine Erfindung der Autorin, daß Blumenberg z.B. einen jahrelangen, intensiven Kontakt zu einem Redakteur hatte, mit dem er sich austauschte und lange Telefongespräche führte. Es ist schon skurril, daß es all die Jahre bei Telefongesprächen blieb, persönliche Begegnungen, sich vielleicht zum Essen zu treffen oder auch nur zu einem Gläschen, war Blumenbergs Sache nicht. Da ist der Löwe natürlich doppelt tröstlich in der gewählten Abgeschiedenheit. Die Beschränkung auf wenige Figuren bekommt dem Roman.

Daneben gibt es noch das Leben der Studenten. Lewitscharoff hat exemplarisch vier grundverschiedene Studenten mit ganz verschiedenen Problemen herausgegriffen. Man lernt mit ihnen Extreme kennen, das geht von grenzenloser Bewunderung bis zum Wahn, aber doch typisch. So sehr sich diese vier Studenten auch unterscheiden, Lewitscharoff läßt sie alle recht früh sterben, durch Mord oder Selbstmord oder sonstwie. Auf jeden Fall gibt es im Grunde keine Berührung zwischen ihnen und ihrem Professor. Vorlesungen ja, sonst aber Bewunderung nur aus der Distanz - Blumenberg war für jeden jungen Studenten ein Riese im Geist, den sie nur teilweise verstehen aber ihm niemals nahe kommen konnten. So sind es eben zwei Welten, auch im Buch: die von Blumenberg und die studentische. Fast möchte ich fragen, wozu die Studenten eigentlich gut sind, außer um Blumenbergs Größe zu zeigen.

Auch mischt sich die Autorin von außen immer wieder in den Roman ein, wählt damit völlig unübliche Mittel:
»So viele Tode verhältnismäßig junger Menschen. Man wird einwenden, der Erzähler hätte besser daran getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer solchen Häufung aufzuwarten...«

Die Studenten sterben also, sie hatten keine Unterstützung, keinen Trost, denn ihnen war nicht vergönnt, was der Philosoph bekam: den Löwen. Das Wunder ist eine Auszeichnung, der Lohn für die Lebensleistung Blumenbergs. Die Kraft des Löwen geht auf Blumenberg über, er gibt Trost und Zuversicht, er wird ihm gar unentbehrlich. Und immer wieder, wenn der Löwe auftritt, muß ich doch grinsen, denn ein Philosoph, jemand, der sich auf seinen Verstand verlassen sollte, wird mit Irrationalem konfrontiert, mit dem Wunder. Ich kenne mich nun in der Philosophie nicht aus, bin also im Grunde auch nicht in der Lage, etwaige Zitate zu erkennen, seien sie von von Blumenberg, Habermas, Heidegger, Taubes oder ganz anderen. Wer hier ein Vorwissen mitbringt, philosophisch gebildet ist, mag noch mehr Freude bei der Lektüre empfinden, wenn er Zitate zuordnen oder Zusammenhänge erkennen kann. Nötig ist das vielleicht nicht, doch hilft es bestimmt zu erkennen, wie das ganze Romanpersonal in seinem individuellen Denken gefangen ist und sich erst im Tod die selbstgeschaffenen Grenzen auflösen.

Über das Ende möchte ich nichts verraten, auch wenn ich gerne den letzten Satz noch zitieren würde. Der Löwe zeigt nochmal seine Kraft, es vollzieht sich ein Übergang in eine andere Welt, der Löwe zeigt den Weg...

Das Buch ist sprachlich ein Genuß, Lewitscharoff vermag wunderbare Sätze zu schreiben. Wie ich schon sagte, die Blumenberg- bzw. die Löwenkapitel waren mir die Liebsten. Das letzte Drittel jedoch, auch die Nebenfiguren, haben mich etwas enttäuscht, ganz hat mich der Roman deshalb nicht überzeugt, trotz aller Einschränkungen ein empfehlenswertes Buch...

»Der Löwe war da. Habhaft, fellhaft, gelb.«

© Ralf 2011