Karl Marlantes: Matterhorn

Ein Vietnam-Roman

Arche 2012, 671 S.
(OT Matterhorn, 2010)
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl

Nach dem zweiten Weltkrieg dürfte der Vietnamkrieg – oder der »amerikanische Krieg«, wie er in Vietnam genannt wird – mit am tiefsten im Bewußt­sein nicht nur der Amerikaner, sondern der westlichen Welt verankert sein. Seine Aufarbeitung dauert bis heute an. Ich würde mal vermuten, daß heute in der deutschen Bevölkerung, wenn man von den politischen Bewegungen der 60er und 70er Jahre absieht, Erinnerungen an den Vietnamkrieg im wesentlichen durch Kinofilme geprägt sind, zumindest bei den Jüngeren. Bücher zu diesem Thema, Romane, dürfte es in den deutschen Buchhandlungen auch nicht viele geben. Dies ändert sich nun mit diesem Vietnam-Roman, wobei man ihn nicht auf Vietnam einschränken muß, es ist ein Kriegs- oder auch Antikriegsroman. Der Autor, Karl Marlantes, war selbst als Marine in Vietnam und gerade wenn man die biographischen Details nachliest, wofür er seine Auszeichnungen bekommen hat, z.B. das Navy Cross, so muß man sofort an den Roman denken, in dem ebensolche Ereignisse geschildert werden. Sie gleichen sich sehr und ich war durchaus überrascht. Marlantes hat 30 Jahre daran geschrieben und selbst Erlebtes, Gehörtes, Recherchiertes ging ein. Nach der Lektüre muß man einfach Verständnis für die vielfältigen Probleme von Kriegsveteranen haben, bei dem, was sie durchgemacht hatten, dazu aber später mehr.

In »Matterhorn« steht die Bravo-Kompanie, 5. Marineinfanteriedivision, im Zentrum des Geschehens, in der Second Lieutenant Waino Mellas 1969 seinen Dienst ableistet. Er hat sich freiwillig gemeldet, weil er nicht mitansehen wollte, wie seine Freunde im Krieg kämpfen, sterben, und er selbst bequem zurück bleibt, studiert oder das Leben genießt. Ein weiterer Gedanke war natürlich, daß ein Dienst mit Auszeichnungen förderlich für die eigene Karriere sein würde. Ähnlich hat sich auch Marlantes in einem Interview geäußert, Mellas ist sein Alter Ego, aus dessen Perspektive der Roman auch geschrieben ist. Viele in seiner Einheit sind extrem jung, meist um die 20 Jahre alt. Ihre Aufgabe wird sein, an der Grenze zu Nordvietnam und Laos einen Berg zu erobern, sie haben ihn »Matterhorn« genannt, in völliger Erschöpfung Bunker zu errichten und ihn als Stützpunkt auszubauen, dann verlassen sie den Berg wieder um ihn später wieder von den Nord­vietnamesen zurück­zuerobern. Ausführlich beschreibt Marlantes die ständigen Gewaltmärsche durch den Dschungel, die Erschöpfung und Torturen, die zu ertragen sind, ewige Nässe und resultierende Dschungelfäule, nichtheilende Wunden, Eiter der läuft, all die Grausamkeiten, von denen man keine Vorstellung hat, daß sie möglich sind.

Die Schrecken sind hier kaum in Worte zu fassen und verblassen. Wollte man das Buch nacherzählen, müßte man viele Superlative verwenden. Der Roman jedoch ist sehr eindrücklich und in vielen Bildern leidet man mit den Soldaten mit. Nicht nur der Dschungel oder Monsunregen, auch die ständige Todesangst, Hinterhalte und Kämpfe, Hunger, schlechte, falsche oder durch Fehlentscheidungen gar fehlende Versorgung lassen auch Wut entstehen auf Inkompetenz einiger Vorgesetzter, auf die Militärführung bzw. einige Karrieristen, die Soldaten als Kanonenfutter nutzen, nur um vielleicht die Statistik zu verbessern. Sterben und Tod durchzieht also das Buch, der Alltag der Soldaten. Es wird aber auch deutlich, daß das Überleben aller vom Überleben Einzelner abhängen kann, wie wichtig Kameradschaft ist, ja wie sie geradezu entsteht und einen fundamentalen Stellenwert bekommt. Der Einsatz für die Gruppe, die Verläßlichkeit Einzelner ist überlebenswichtig.

Ein weiteres zentrales Thema, das den Roman durchzieht, ist der Rassenkonflikt, der zwischen Weißen und Schwarzen hochkocht. Es war eine politisch sehr aufgewühlte Zeit. Schon einige Jahre zuvor, 1963, wurde John F. Kennedy erschossen, kurz vor Beginn von Marlantes »Matterhorn« fanden die Anschläge auf Martin Luther King und auf Robert Kennedy statt. Die aufgeheizte Stimmung findet sich im Roman immer wieder an ganz konkreten Beispielen, man verfolgt Diskussionen unter den Schwarzen, den »Brothers«, ebenso wie Mellas' Verstehenwollen bei diesem Thema.

Als Leser kann man gut die Entwicklung von Lieutenant Mellas verfolgen. Er kam als sehr junger Mann in Vietnam an: zuhause ist die Jugend gerade vorbei, er geht auf die Militärakademie, bekommt eine Grundausbildung, ein theoretisches Wissen und wird nun in den Terror des Vietnamkriegs geworfen. Aber Schritt für Schritt, mit jedem Marsch, mit jedem Angriff oder Hinterhalt lernt er dazu. Er erlebt viele Grausamkeiten, Leid, Schmerz, körperlich wie psychisch. Er lernt was Freundschaft und Für­einander­einstehen bedeutet, aber auch den gelegentlichen Irrsinn und die Härte militärischer Führung, den Horror und Irrsinn überhaupt von Krieg. Doch all dies durchzumachen läßt ihn wachsen, der Leser spürt deutlich die Entwicklung und am Ende des Romans kann man ihn, obwohl erst Anfang zwanzig, als erfahrenen Veteran bezeichnen, der weiß, was ihn im nächsten Einsatz erwartet.

Es ist also ein Buch über den Krieg. Manche sterben als Helden, andere wegen der Inkompetenz von Vorgesetzten. Kein Film kann die Wirkung der Schrecken des Krieges besser beschreiben, als das Lesen dieses Buches. Und natürlich denkt man automatisch über heutige Kriege nach. Die Technik hat sich um Welten weiterentwickelt, Kriege werden heute anders geführt, manches bleibt gleich, anderes verändert sich oder kommt neu hinzu. Was erleben die Leute in Afghanistan oder anderen Schauplätzen? Krieg ist schrecklich, jeder Krieg. Marlantes war Soldat, er hat aus eigner Erfahrung geschrieben, das macht das Buch umso grausamer und es ist ein Kriegsbuch in dem Sinn geworden, als es ihn abbildet. Das Buch stand in Amerika ganz oben auf den Bestsellerlisten und wurde auch von Soldaten gelesen. Es ist aber auch ein Antikriegsbuch, das dürfte nun auch deutlich geworden sein.

Das Buch erzählt nicht die Historie des Vietnamkrieges, die Perspektive der Nordvietnamesen kommt hier nicht vor, genauso wenig wie es Absicht wäre, die Motive der Amerikaner darzulegen, auch nicht die Strategien der Generale. Es möchte vom einfachen Sodaten erzählen. Als Leser ist man mittendrin im Alltag, in der Eintönigkeit der Marines, man begleitet sie mit ihren Ängsten, Hoffnungen, im Kämpfen und Sterben, so grausam es ist. Übrigens ist es auch ein Männerroman, Frauen kommen im gesamten Buch bis auf eine kurze Ausnahme nicht vor. »Matterhorn« ist ein sehr eindringlicher Roman, der von den Schrecken erzählt und Emotionen freisetzt. Hinterher hat man Verständnis für die Traumata und Probleme der Veteranen, mich hat das Buch sehr beeindruckt…

© Ralf 2012