David Mitchell:
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Rowohlt 2012, 715 S.
(OT The Thousand Autumns of Jacob de Zoet, 2010)
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Wer sich für Literatur interessiert, dürfte spätestes seit 2004 bzw. 2006 auch David Mitchell kennen, denn sein »Wolkenatlas« ist begeistert aufgenommen worden, allerdings fand sich bisher unter seinen Büchern kein Werk aus dem Genre »historischer Roman«, auch wenn er immer auch mit den Zeiten gespielt hat. Deshalb war ich im Vorfeld sehr gespannt auf dieses Buch, und ja, er hat sich nun auch dieses Genre angeeignet. Die erste Neugier auf Dejima wurde bei ihm schon Ende 1994 geweckt, als er zufällig in Nagasaki vor den Überresten dieser künstlichen Insel stand. In diesem Jahr ging David Mitchell für einige Jahre nach Hiroshima, um dort zu arbeiten, er hat seine japanische Frau kennengelernt und von daher verwundert es nicht, daß er sich eben Japan als historischen Schauplatz ausgesucht hat.

Da es sich um einen historischen Roman handelt, lohnt es sich, vorher den geschichtlichen Kontext zu betrachten und nicht gleich zum Buch überzugehen. Der Roman spielt auf Dejima/Nagasaki in der Edo-Zeit (benannt nach der Hauptstadt Edo, dem heutigen Tokio). Um den Buddhismus zu stärken, hat man schon früh das Christentum verboten (um 1615), außerdem hat sich Japan ab Mitte des 17. Jahrhunderts vom Ausland isoliert, Handel mit dem Ausland wurde auf chinesische und niederländische Handelsposten in Nagasaki beschränkt. Europäer, die illegal versuchten einzureisen, mußten mit der Todesstrafe oder wenigstens mit lebenslänglicher Haft rechnen. Strengstens verboten war auch das Mitbringen christlicher Symbole oder z.B. der Bibel. Übrigens durften auch Japaner das Land nicht verlassen, und welche, die schon weg waren, durften nicht mehr zurück – es war die Zeit der Abschließungspolitik. Kaufleute schufen dann im Hafen von Nagasaki die Handelsstation Dejima, eine kleine, künstlich aufgeschüttete Insel, die nur für etwa 60 Gebäude Platz bot. Auf ihr konnten alle Europäer »gesammelt« werden und sie wurde von der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) für ihre Faktorei (Handelsniederlassung) genutzt. Natürlich war auch Dejima absolut abgeschottet und es wurde streng kontrolliert, wer es betrat oder verließ.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts öffnete sich Japan dann der Welt.

Und nun können wir direkt in Mitchells Roman »Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet« einsteigen. Unser Held Jacob de Zoet, ein junger Handelsangestellter, kommt 1799 nach Dejima und hofft, dort sein Glück zu machen. Triebkraft für diese Entscheidung war im Grunde eine Liebe in der Heimat. Jung und mittellos, wie er war, hat er diesen Weg gewählt, in der Hoffnung zu Wohlstand zu kommen, um seiner liebsten Anna etwas bieten, um beim Vater um Annas Hand anhalten zu können, der verlangte, daß Jacob etwas mit in die Ehe einbringen würde und sie zu heiraten. Es sollten nur ein paar Jahre sein. Doch die Faktorei erweist als das Gegenteil einer wohlgeordneten Handelsniederlassung. Unser armer Held trifft auf eine korrupte und falsche Gemeinschaft. Das erste Bild des rechtschaffenden Faktoreileiters entpuppt sich als großer Irrtum, viele der auf der Handelsstation arbeitenden Landsleute denken nur an ihren eigenen Vorteil, wollen in die eigene Tasche wirtschaften, einschließlich der Vorgesetzten, was übrigens nicht unwesentlich für den Niedergang der Niederländischen Ostindien-Kompanie Jahre später war. Jacob de Zoet selbst war allerdings gründlich, fromm und ehrlich, jemand der seine Arbeit ernst nimmt und die Bücher zu kontrollieren hatte - ein schwerer Stand auf dieser Insel und er machte sich nicht unbedingt Freunde.

Aber es gibt nicht nur Widersacher. Einen ganz besonderen Status hat der Arzt, Botaniker und Forscher Dr Marinus, ein europäischer Gelehrter, mit dem sich de Zoet gut versteht und mit dem er sich in vielen Belangen austauschen kann. Dr Marinus ist auf Dejima nicht so eingesperrt, ihm ist es ausnahmsweise auch gestattet, mehr Kontakt zu ausgewählten Japanern zu haben und zu forschen. So arbeitet bei ihm u.a. Aibagawa Orito, die sich zur Hebamme ausbilden lies. Und mit einer Geburt beginnt auch das Buch - was für ein furioser Einstieg auf den ersten Seiten in die Geschichte.

Damit wäre auch das wichtigste Personal vorgestellt. David Mitchell beschreibt auf der einen Ebene das Leben in der Faktorei, den Handel mit den Japanern, die Sprach- und Verständnisschwierigkeiten, aber natürlich auch das gegenseitige Misstrauen, das beäugen des Anderen, denn beide sind sich ja absolut fremd in ihren Kulturen, Gebräuchen und den Umgansformen. Hier findet sich die großartige Leistung Mitchells, die Recherche hat sich gelohnt und gerade auch die Ignoranz und das Missverstehen zwischen den beiden Gruppen einfühlsam beschrieben zu haben ist ihm gut gelungen. Aber auch die Neugier, vor allem der Japaner, auf die westliche Kultur, westliches Wissen, auch wenn dies nur mehr oder weniger versteckt erfolgen konnte. Sprache spielt auch eine wesentliche Rolle, ist auch Machtinstrument, daher haben gerade die Übersetzer großen Einfluß. Denn das Vermitteln der Sprache dient auch dem Vermitteln von Wissen, Verstehen, dem Austausch der Kulturen.

Die zweite Ebene des Romans ist das Leben, die Probleme, später die Verschleppung von Aibawaga Orito, der japanischen Hebamme und damit die japanische Sicht diverser Lebensaspekte und Haltungen zu jener Zeit. Aus familiären Gründen verliert sie jedoch ihre Autonomie, ihre Mutter »verkauft« sie und sie wird gezwungen, abgeschottet im Shiraniu-Schrein zu leben, einem Kloster - oder sollte man es eher Sekte nennen? Gerade dieser Teil ist hochdramatisch, als Leser verfolgt man dies mit viel Empathie und wünscht Orito bestehen zu können, denn hier spielen sich schrecklichste Szenen ab, ein Horror, der natürlich absolut geheim gehalten wird. Verbunden werden schließlich die beiden Ebenen durch eine verbotene Liebesgeschichte, die sich zwischen Jacob de Zoet und Orito entwickelt.

Das Buch hat über 700 Seiten, auf denen es David Mitchell ausgezeichnet gelingt, zunächst die Spannung zwischen Europäern und Japanern zu schildern, die Machtstrukturen, ihre verschiedenen kulturellen Identitäten, Arroganz und Unverständnis auf beiden Seiten neben den ohnehin bestehenden Problemen wie Falschheit, Niedertracht und Korruption in der niederländischen Handelsniederlassung. Zunehmend entwickelt sich dann eine charmante Liebes- und Verschwörungs­geschichte. Es gibt Rettungsversuche, Liebe und Mord, religiöse Rituale, Verrat und Verschwörung auf allen Seiten. Das Tempo steigert sich und der Roman wird zu einem regelrechten »Thriller». Das soll nun nicht trivial klingen, es ist ein wunderbar erzählter historischer Roman, der eben zunehmend einen Sog entwickelt und deshalb auch mit Spaß flüsig zu lesen ist.

Mitchell hat es geschafft, die vielen Figuren ihre eigene Geschichte erzählen zu lassen, den historischen Stoff in eine spannende Geschichte einzubetten, viele Fäden zu spinnen und später wieder zusammen zu führen. Auch wenn ich im Vorfeld nach der Kenntniss seines bisherigem Werkes etwas anderes erwartet hatte, vielleicht diffus etwas irgendwie »Schwieriges, Tiefes«, eventuell auch Anstrengendes. so ist nun das Gegenteil doch umso besser - eine schöne, spannende Überraschung, die mich ausgezeichnet unterhalten hat.


Wer sich ausführlicher für David Mitchell interessiert, hier ein Interview im Paris Review. Und ganz aktuell, vielleicht für die Berliner: im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals ist er am 10. September 2012 im Haus der Berliner Festspiele.

© Ralf 2012