Julie Otsuka: Wovon wir träumten

Mareverlag, 2012, 159 S.
(OT The Buddha in the Attic, 2011)
Aus dem Amerikanischen von Katja Scholtz

Julie Otsuka ist 1962 geboren und wuchs in Kalifornien als Amerikanerin japanischer Herkunft auf. Das ist hier deshalb bemerkenswert, weil ihr neuestes Buch Wovon wir träumten das Schicksal japanischer Einwanderer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schildert.

Nach dem ersten Weltkrieg immigrierten sehr viele japanische Mädchen und Frauen in die USA, um japanische Einwanderer zu heiraten. Meist waren es sehr arme Frauen, die in Japan nur ein erbärmliches Leben vor sich sahen und sich ein besseres Leben in Amerika erhofften. Sie wurden über den Pazifik verschifft und hatten von Heiratsvermittlern lediglich Fotos eines Mannes, der sie erwartete, von dem sie aber fast nichts wußten. Das wurde zum Drama für viele. Schon die Männer, die sie erwarteten, waren oft genug nicht die, die sie auf den Fotos betrachteten. Sei es, daß die Männer sehr viel älter waren, häßlicher oder eben auch oft nur arme, am Rand der Gesellschaft stehende Männer und nicht der reiche, erfolgreiche Amerikaner. Oder es waren ganz andere Personen auf dem Foto, nur ein Freund oder Arbeitskollege.

Doch auch das Leben im goldenen Kalifornien, in der amerikanischen Gesellschaft erwies sich anders, als sie es sich erhofft hatten. Die Frauen waren billige Arbeitskräfte für ihre Männer, oder für die Amerikaner. Sie arbeiteten sich bis zur Erschöpfung auf dem Land ab, auf den Gemüsefeldern, in der Landwirtschaft, sie putzen oder im besseren Fall waren sie billige Hausmädchen bei den Weißen, im schlechteren Fall landeten sie in Bordellen. Was sie aber nicht bekamen war Respekt oder Achtung, sie wurden ausgebeutet, waren rechtlos, bekamen Verachtung und den Rassismus täglich zu spüren. Sie waren von der Gesellschaft ausgeschlossen, auch wenn sich die Amerikaner an sie gewöhnten, ihre Zuverlässigkeit schätzten, so gehörten sie doch nie dazu, blieben unter sich.

Die Kinder, die sie zur Welt brachten, versuchten natürlich daraus auszubrechen, wollten ein "amerikanisches" Leben leben. Dazu legten sie sich amerikanische Namen zu, spachen besser die Landessprache, legten japanische Gewohnheiten und Gebräuche ab, versuchten ihrer eigenen Geschichte zu entfliehen und sich anzupassen.

Doch dann der zweite Weltkrieg, Pearl Harbor. Das war nicht nur ein Schock für die Amerikaner, für die japanischen Migranten wurde es zur Tragödie. Vorher war es der Rassismus, nun wurde daraus offene Ablehnung und Haß gegen die japanischstämmige Bevölkerung, nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von der Regierung. Für die Presse, die Politiker, das Militär oder die normale Bevölkerung waren japanische Einwanderer plötzlich eine massive Bedrohung, die Feinde. Hysterie, Übergriffe und schließlich Enteignungen, Plünderungen und Internierung waren die Folge. Es wurden mehr als 120000 Menschen in Internierungslager verfrachtet, vertrieben aus ihren Häusern, Höfen, Betrieben, sie verloren ihre Unternehmen, die Jobs, wurden aus den Schulen verwiesen und inhaftiert.

All dies schildert Julie Otsuka in Wovon wir träumten. Das besondere an dem Buch ist die Erzählperspektive. Sie nimmt die Position der Frauen ein, und zwar aller Frauen. Es gibt also keine individuellen Schicksale oder Personen, deren Leben geschildert würde, sondern es spricht ein kollektives »WIR«.

»In jener Nacht nahmen unsere neuen Ehemänner uns schnell. Sie nahmen uns ruhig. Sie nahmen uns sanft, aber fest, und ohne ein Wort zu sagen. Sie glaubten, wir seien die Jungfrauen, die die Heiratsvermittler ihnen versprochen hatten, und sie nahmen uns mit größter Behutsamkeit. Sag Bescheid, wenn es wehtut. Sie nahmen uns flach auf dem Rücken liegend auf dem nackten Boden des Minute Motel. Sie nahmen uns in der Innenstadt... Sie nahmen uns, bevor wir so weit waren, und die Blutungen hielten drei Tage lang an. Sie nahmen uns, während wir unter unseren hochgeschobenen weißen Seidenkimonos zu ersticken drohten. Ich dachte, ich sterbe. Sie nahmen uns gierig, hungrig, obwohl wir noch immer seekrank waren... Sie nahmen uns gewaltsam, mit ihren Fäusten, sobald wir versuchten, sie abzuwehren. Sie nahmen uns, obwohl wir sie bissen. Sie nahmen uns, obwohl wir sie schlugen.«

So wird der Vollzug der Ehe das ganze Kapitel über geschildert, überschieben mit »Erste Nacht«. Zu jedem Thema gibt es Kapitel, überschrieben mit »Weiße«, »Babys« oder »Die Kinder«. Im Grunde werden alle Lebenssituationen beschrieben, das ganze Leben, aber immer als »WIR«, aus Sicht der Frauen, die Männer sind die anderen, die Weißen erst recht. Durch das »WIR« werden alle Erlebnisse von allen Frauen berücksichtigt, dazwischen eingeschoben in ein oder zwei Sätzen auch konkrete individuelle Beispiele. Das Unglück von vielen ist dabei, ebenso wie das Glück von wenigen. Dazwischen manchmal auch ein konkreter Name, dann nur einen Satz. Man hat das Gefühl, alles gehört zu haben, die Geschichten und das Leid von sehr vielen Frauen, so daß sich eine detailreiche Gesamtdarstellung ergibt. Eine große Geschichte, die in den USA in Zusammenhang mit der asiatischen Bevölkerung ein großes Thema ist.

Ich war nicht immer überzeugt vom »WIR«, von den fast aufzählungsartigen Schilderungen der vielfältigen Schicksale. Im letzten Kapitel, nach dem Abtransport, nach der Internierung, lautet die Überschrift »Ein Verschwinden« und das »WIR« repräsentiert nicht mehr die japanischen Frauen, sondern die amerikanische, weiße Bevölkerung »Die Japanier sind aus unserer Stadt verschwunden. Ihre Häuser sind jetzt mit Brettern vernagelt und leer.« Die Aufarbeitung ist Aufgabe der kommenden Jahrzehnte und dauert bis heute an...

Doch, ein besonderes Buch, vom Verlag auf "angenehmem" Papier gedruckt und schön gebunden...


© Ralf 2012