Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht

S Fischer 2011, 441 S.

»Es beginnt auf diesem Wasser, auf dem Weg zurück. Die Fähre dreht, und ich sehe mich noch einmal um. Ich versuche, mir einzuprägen, wo ich gewesen bin; die Kate, die Felswand, der Leuchtturm, die schwimmenden Pontons am Strand.«

So beginnt der neue Roman von Antje Strubel, auf einer Fähre von der Insel Stora Karlsö, einer winzigen schwedischen Naturschutzinsel, kurz vor Gotland. Erik ist ein 24jähriger Student, der reist und bis zum Beginn des nächsten Semesters Urlaub macht, sich treiben läßt. Er war zelten auf Gotland, wollte die Insel Stora Karlsö eigentlich nur für einen Tage besuchen, er lernt aber Ines kennen, von der er sich angezogen fühlt, so daß er sich im Leuchtturm in das Gästezimmer einmietet, erst für eine Nacht, für noch eine. Um nicht abreisen zu müssen, engagiert ihn Ines als Praktikant auf der Insel und teilt ihm Aufgaben zu. Ines ist gut 16 Jahre älter und Ornithologin, den Vögeln hat sie sich ganz und gar verschrieben, studiert Lummen bzw. Alke. Ansonsten lebt sie recht zurückgezogen auf der kargen Insel, hält sich die Menschen etwas auf Abstand und scheint etwas verschlossen, was ihre frühe Vergangenheit betrifft, spricht nicht so gerne darüber. Erik dagegen stellt sehr schnell fest, daß sie wohl beide aus der früheren DDR stammen, er ist ein Adoptivkind, über seine leiblichen Eltern weiß er nichts. Spätestens als man erfährt, daß Ines als Teenager schwanger war und vor der Wende ihr Kind zur Adoption freigegeben hat, ahnt man schon früh, was die beiden verbindet.

Diese erste Hälfte des Buches, wo sich die Liebesgeschichte langsam entwickelt, hat mir sehr gut gefallen - vorsichtig tasten sich die beiden vorwärts, skeptisch und doch sehnsüchtig, durchwoben ist alles von einem spannungsreichen Grundton, man ist gefesselt und möchte gerne wissen, wie es weiter geht, denn etwas geheimnisvolles liegt in der Luft, da gibt es noch Rätsel, Brüche. Strubel setzt geschickt immer wieder einen Schnitt, um die Zeitebene oder die Perspektive zu wechseln, so daß sich das Buch etwas wie ein Thriller liest, ohne daß man zunächst ahnen würde, worum es nun wirklich geht, danach möchte man unbedingt weiter lesen, mehr wissen.

Hinzu kommt, daß es viele Stimmungen aus der Natur gibt. Die karge Insel, die Klippen, immer wieder die Vögel, die die Insel beherrschen und natürlich das Meer, die Ostsee. Ständig war sie mir päsent, ich fühlte mich ständig wie auf der Insel, im Urlaub. Erik findet Klappersteine: diese haben eine kleine Öffnung, so daß Meerwasser die weiche Kreide im Inneren zwischen Schwamm und Hülle auswaschen konnte. Da mußte ich doch immer wieder an den letzten Urlaub auf Møn denken, wo ich Donnerkeile gesammelt hatte.

»Wir behielten die Nester im Auge. Die Lummen peitschten mit den Flügeln den Felsen, drehten das Ei um die Achse, um sich dann wieder niederzulassen oder dem Partner Platz zu machen

Mit der Fähre kam auch Feldberg auf die Insel, der sich immer wieder zwischen Ines und Erik stellt, Bemerkungen fallen läßt, Argwohn streut und Einfluß zu nehmen versucht. Vor allem Ines, die ihn aus ihrer Jugend in der DDR kennt, reagiert sehr abweisend auf ihn. Doch das Unglück naht unaufhaltsam, Ines möchte beginnenden Zweifel wegschieben und doch wird irgendwann klar, daß die Vergangenheit wieder da ist. Was Ines mit Erik sonst noch verbindet, möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, auch wenn man es wie gesagt schon seit Beginn des Buches auch ahnen kann. Nun beginnt der zweite Teil des Buches, es ist die Vergangenheit, die im weiteren Verlauf aufgerollt wird. Feldberg ist nicht zufällig auf der Insel, er war früher bei der Stasi, hat zu DDR-Zeiten schon auf das weitere Leben von Ines und Erik Einfluß genommen und hat heute wieder eigene Interessen. Seine Methoden sind die Alten, er wirkt hier wie das Böse schlechthin, Ines ist für ihn nur ein (Arbeits-)Objekt. Subtil oder offen säht er Zwietracht; nicht nur zwischen den Menschen, sondern interpretiert um, legt den Zweifel wie ein Virus in die Köpfe, so daß sich Gedanken u.U. in seine gewünschte Richtung verselbstständigen. Verunsicherung breitet sich mehr und mehr aus, was ist wahr, was nicht? Verzweiflung macht sich breit.

»Die Luft erscheint satt, als könne sie tragen, das Dunkel wirkt mild. Sie weckt den Wunsch, sich hinabzustürzen, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel, sich von der Kante weg fallen zu lassen, den Fuß nur ein Stück nach vorn zu schieben, das Gewicht zu verlagern und sich der Wirkung der Schwerkraft zu überlassen, ihrem Druck, ihrer Endgültigkeit.«

Und so drängt das Vergangene oder Vergangengemeinte in die Gegenwart, die Schatten der Stasi bedrohen, Täter der alten Gesellschaft scheinen wieder zu wirken, Menschen, die früher Leben zerstört haben, nehmen Einfluß, diesmal im eigenen Interesse, von Profiteuren der Wende, die wieder Biographien hinbiegen wollen, um politisch zu profitieren. Welchem Einfluß unterliegt die Vergangenheit, ist gar das eigene Leben beeinflußt, manipuliert?

Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt und nach und nach findet man Antworten.

Und liest man Abschnitte auf den ersten Seiten nach Abschluß des Buches nochmal, dann versteht man sie erst richtig, kann sie einordnen. Es gibt, gerade im ersten Teil, sehr schöne Absätze.

»Es hatte begonnen, wie es immer beginnt. Es beginnt immer unmerklich. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr genau sagen, wann.
In Wahrheit wird es diesen Moment, in dem es begann, nicht gegeben haben. Ich fange an, danach zu suchen, wo alles unwiderruflich geworden ist. Im Nachhinein. Erst jetzt sieht es so aus, als wären die Ereignisse tatsächlich zwangsläufig aufeinander gefolgt, weil es die Geschichte in der Rückschau so verlangt. Ich suche nach einem entscheidenden Auslöser, weil ich die Wahl gehabt haben möchte, weil ich glauben möchte, dass ich irgendwann tatsächlich vor einer Entscheidung stand. Und das ist vielleicht der Irrtum
«

Ein Buch, das ich sehr gerne gelesen habe, vor allem die erste Hälfte. Und daß sich Antje Rávic Strubel gut in Schweden auskennt, liegt an ihren vielen Reisen dorthin. Ein Ergebnis davon ist, so sehe ich gerade, u.a. ein Buch mit dem Titel »Gebrauchs­anweisung für Schweden«. Entsprechende Stimmungen aus der Natur, zumindest von der Insel »Stora Karlsö«, kann sie, was in »Sturz der Tage in die Nacht« gut rüberkommt, nachfühlbar beschreiben: sehr schön...


© Ralf 2011